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Sehnsüchtig blickte ich auf die graue Straße vor mir. Wie viel Langeweile konnte ein Vampir ertragen? Ich gab Vollgas, dennoch fuhr dieser verdammte LKW, den ich zu Fuß überholen hätte können, nicht schneller. Was hätte ich dafür gegeben, meinen Porsche zu fahren. Mit dem Sportwagen träfe ich zwei Stunden früher in Salzburg ein. Es war Mittag. Vor fünf Stunden, als die Sonne aufgegangen war, hatten sich meine Leute zur Ruhe gelegt. Im Sonnenlicht würden sie verbrennen - der einzige Nachteil einer verwandelten Gefolgschaft. Menschlichen Chauffeuren vertraute ich nicht. Sie waren so leicht zu manipulieren. Wir lagen im Zeitplan. Ich würde es noch schaffen, vor unserer Zusammenkunft bei Einbruch der Nacht Jeremeia einen Besuch abzustatten. Auf der Konferenz würde es keine Gelegenheit geben, sich ungestört zu unterhalten. Alles, was ich sah, war trockener Asphalt. Die Autobahn war wie leer gefegt, nicht einmal ein paar Polizisten, als kleines Häppchen für zwischendurch, waren zu sehen.
Ich war rasch vorangekommen, es waren nur noch ein paar Kilometer bis zu Jeremeias Heim. Als er sich dieses protzige Gebäude errichten hatte lassen, hatte ich mich ständig über ihn lustig gemacht. Ein Schloss war typisch für ihn, so nostalgisch, wie er war. Es waren noch schöne Zeiten gewesen. Damals hatte er noch nicht diesen verqueren Sinn für Moral entdeckt.
Ja hallo! Was geht denn da vorne spazieren? Ein kleiner Snack - wie nett. Wen soll ich zuerst probieren? Die Frau oder einen der beiden Männer? Ich entschloss mich, den jüngeren der Kerle zu beißen und die anderen unmanipuliert zu lassen. Auf das erschrockene Kreischen der Frau freute ich mich schon. Langsam stieg ich aus dem LKW, der Wind fuhr in die offenen Enden meines langen schwarzen Ledermantels und blies sie breitgefächert nach hinten. Die drei beobachteten mich neugierig, sie hatten keine Furcht vor mir, aber etwas Unbehagen verschaffte ich ihnen offensichtlich dennoch. Blitzschnell fasste ich den jüngeren Mann an den Schultern und biss in seine einladend pulsierende Halsschlagader. Ich mochte es, wenn meine Opfer vor Entsetzen und Schmerz aufschrien und zappelten. Es versüßte mir das Blut, doch sein Blut war praktisch ungenießbar. Die Sterblichen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Man findet fast niemanden mehr, der nicht nach Plastik, Weichmachern, Pestiziden oder sonstigen Giften schmeckt. Den schlimmsten Nebengeschmack verursachen Medikamente, sie lassen das Blut so bitter werden. Warum benötigt jemand bereits in solch jungen Jahren Medikamente? Nein, das sind keine Medikamente. Verflucht, was ist das? Mein Körper fühlte sich plötzlich so schwach an. Der ältere zog eine Eisenstange aus seinem Mantel, holte aus und schlug zu. Ich versuchte den Schlag abzuwehren, aber was zum Teufel …? Die Kraft dazu hatte ich nicht mehr. Er war doch nur ein Mensch! Wie war das möglich? Ich sank in die Knie und die Stange donnerte erneut mit voller Wucht auf mich herab. »Wie schmeckt dir das Gift? - Arschloch! Fühlst du dich entkräftet?«
Das war also der bittere Geschmack im Blut des Mannes - Gift! Es gab nicht viele Toxine, die einem Vampir schaden und Sterblichen nicht. Sie zu beschaffen ist fast unmöglich. Jenes, mit welchem ich vor kurzem Jeremeia töten wollte, hatte mich ein Vermögen gekostet. Bis heute verstehe ich nicht, wie es Michael gelungen war, ein Gegenmittel herzustellen. Das Gift, das ich getrunken hatte, konnte nicht besonders stark gewesen sein. Vermutlich würde ich zwischen drei und acht Stunden benötigen, es abzubauen. Ich probierte Augenkontakt mit den Menschen aufzunehmen, um sie zu hypnotisieren, doch sie mieden meinen Blick bewusst. Der ältere zog ein Tuch aus der Tasche und verband mir damit die Augen. Mithilfe einer Spritze injizierten sie mir noch mehr von dem Gift, das mich bewegungsunfähig machte. Das sollten sie mir büßen! Dafür würde ich sie langsam und genussvoll zerstückeln. Sie zerrten mich zu einem Auto und sperrten mich in den Kofferraum.
Die abgedroschene Floskel ›Ihr werdet um euren Tod betteln, bevor ich ihn euch gewähre‹ ersparte ich ihnen. Ich wollte, dass sie es selbst herausfinden. Sobald der letzte Sonnenstrahl der Nacht gewichen war, würden meine Leute zu mir kommen und mich befreien. Denn mit meinen fünf Vampiren im Laderaum des LKWs hatte ich bereits Kontakt aufgenommen. Sie waren meine besten Kämpfer. Kein Wunder, denn ich hatte sie vor Jahrhunderten auf dem Schlachtfeld gefunden und verwandelt. Schon bevor sie zu Vampiren wurden, wussten sie, wie man kämpft. Da ich sie gemacht hatte, konnte ich mit ihnen kommunizieren, wann immer es mir beliebte. Ich brauchte mich dazu nur in ihre Köpfe zu denken. Während ich gefesselt im Auto lag, berichtete ich ihnen von jeder Abzweigung, jedem Bahnübergang und allen anderen Anhaltspunkten, die ich hörte und spürte. Dann endlich stoppte das Fahrzeug und der Kofferraumdeckel wurde geöffnet. Sie schleiften mich aus dem Auto und über eine Treppe nach unten, vermutlich in einen Keller. Um mich selbst zu beschäftigen, stellte ich mir vor, wie ich sie für dieses Verbrechen foltern würde. Für diese Erniedrigung würden sie mir büßen müssen! Niemand, abgesehen von meinen Leuten, durfte jemals erfahren, dass ich von Menschen gekidnappt worden war, es wäre zu demütigend. Die drei Todgeweihten schlugen mich und stachen mit Messern auf mich ein. Diese Amateure hatten keine Ahnung, wie man richtige Schmerzen verursacht, aber ich plante, sie es bald zu lehren. Für kurze Zeit machten sie sich noch über mich lustig, dann schlenderten sie nach oben und schlugen eine schwere Tür zu. Eine Autotür schloss sich, das Auto fuhr los und bald waren sie außer Hörweite. Als Vampir hatte ich ein exzellentes Gehör. Die Menschen hatten mich mit Eisenketten gefesselt, oder sollte ich sagen, sie hatten mich in Ketten eingewickelt. Wäre ich durch das Gift nicht geschwächt gewesen, hätten mich diese Fesseln nicht halten können. Als sie zurückkamen und den Raum betraten, verbreitete sich ein wunderbarer Geruch. Was war das? Mmh köstlich! Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Meine Entführer waren nicht alleine, sie hatten jemanden mitgebracht und offensichtlich verteidigte sich jener. Besser gesagt, sie wehrte sich, denn ich hörte eine Frau verzweifelt fragen: »Was habt ihr mir da gespritzt? Was wollt ihr von mir? Ich habe euch nichts getan.«
»Lass das Theater, uns ist klar, dass du ein Vampir bist. Wir beobachten dich und deine rothaarige Blutsaugerfreundin schon seit zwei Tagen«, antwortete einer der Kerle. »Vampire? Wovon sprecht ihr? Es gibt keine Vampire. Ihr seid krank!«
»Glaubst du wirklich, wir sind dumm?«
»Nein, ich denke ihr seid verrückt, absolut durchgeknallt.«
Ihrer Stimme nach zu schließen wusste diese Frau tatsächlich nichts über Vampire und hatte keine Ahnung, was gerade mit ihr geschah oder wieso. Wenig später schrie sie auf und dieser atemberaubende Geruch wurde intensiver.
»Wenn das so ist, weshalb heilen deine Wunden dann sofort?«, fragte der Mann selbstgefällig. »Wovon sprichst du?«, klang die Frau immer noch leidend.
»Warum heilst du nicht?«, wunderte er sich.
»Verheilen Schnittverletzungen bei dir in einer Minute? Also bei mir nicht. Vollidiot!« Wenn man bedachte, wie ängstlich diese Frau eben noch geklungen hatte, so wirkten ihr plötzliches Selbstbewusstsein und ihre kecke, sarkastische Art doch äußerst verdächtig. Die drei Entführer begannen panisch zu streiten, sie wussten nicht, was sie mit ihr tun sollten. Die Entführerin war dafür, sie zu töten, der jüngere der beiden Kerle wollte sie gehen lassen und der ältere hatte eigene Pläne. Die entführte Frau nutzte die Uneinigkeit ihrer Kidnapper aus. Sie jammerte über die schmerzenden Fesseln, bewunderte die starken Arme der Typen und überzeugte sie gekonnt, dass sie keine Gefahr für sie darstellte. Unterschwellig flirtete sie sogar mit ihnen, um losgebunden zu werden, bis die Männer, trotz der Proteste der Entführerin, die Eisenketten der Gefangenen lösten. Anschließend stachen sie noch des Öfteren mit einem Messer auf mich ein, woraufhin meine Mitgefangene protestierte und sich für mich einsetzte. Wenn ich bei Sonnenuntergang großzügig gelaunt sein würde, würde ihr das vielleicht das Leben retten oder wenigstens einen schnellen Tod bescheren.
Kaum waren wir nur noch zu zweit, kam sie näher und dieser herrliche Geruch mit ihr. Fast zärtlich entfernte sie meine Augenbinde. Sie schien ein sehr sensibler Mensch zu sein. Sensibilität ist meiner Meinung nach mit Schwäche gleichzusetzen. Sie legte die Hände auf meine Wangen und sah mir direkt in die Augen. Da ich am Boden lag und sie über mich gebeugt war, sah ich nur ihr Gesicht. Ihre langen, blonden Haare mit leichtem Rotstich berührten meine Stirn. Sie war sehr hübsch. Hübsche Menschen gab es viele, doch ihre Augen waren einzigartig. Noch nie hatte ich schönere blaue Augen gesehen, und das mochte etwas bedeuten, denn ich war sehr alt.
Furchtlos blickte sie mir in die Augen. »Sind die drei weg oder können sie uns noch hören?«
Scheinbar war ich von dem Gift noch zu geschwächt, um sie zu manipulieren. Fragend hob ich die Augenbrauen, dass ich die Menschen noch hören konnte, brauchte sie nicht zu wissen, und da sie gerade mitangesehen hatte, wie ich verletzt worden war, spielte ich den Leidenden.
Sie begann zu lachen. »Verarschen kannst du jemand anderen. Mit deinen Vampirohren weißt du doch genau, wo sie sind. Außerdem sind deine Wunden längst verheilt. Weshalb zerstörst du die Fesseln nicht?«
Unglaublich, dass ich ihr ihre Unwissenheit abgekauft hatte! Wir würden noch einige Zeit gemeinsam in diesem Keller verbringen, daher antwortete ich: »Sie haben mich vergiftet.«
»Oh, das erklärt einiges. Bist du geboren oder gemacht?«
Woher wusste sie so viel über unsere Art? Langsam wurde ich misstrauisch, doch das zeigte ich ihr selbstverständlich nicht. »Warum interessiert dich das?«
Sie drehte den Hals ein wenig zur Seite und ich entdeckte die Narbe einer Bisswunde. Es war keine schöne Narbe. Sie musste einen Vampir sehr wütend gemacht haben. Keck hob sie die Augenbrauen. »Ich sollte doch wissen, ob wir mit unserer Flucht bis Sonnenuntergang warten müssen.«
Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. »Angenommen, ich wäre geboren, wie würdest du dir unsere Flucht dann vorstellen?«
»Ganz einfach, ich heile dich mit meinem Blut, du zerreißt diese Ketten, öffnest die Tür und wir suchen das Weite. Danach gehen wir getrennte Wege.«
Da ich mit Eisenketten verschnürt vor ihr lag, schien ich doch recht wehrlos zu wirken, denn sie hatte nach wie vor keine Angst vor mir. Ein bisschen Blut würde gegen das Gift nicht viel ausrichten, aber da ich durch die Folterversuche unserer Entführer viel Blut verloren hatte, konnte ein kleiner Snack nicht schaden. Eigentlich konnte ein kleiner Snack nie schaden, ganz besonders, wenn er so umwerfend duftete. »Ich bin geboren. Gib mir dein Blut und wir verschwinden.« Ich gab mir große Mühe vertrauenerweckend und aufrichtig zu wirken.
Ermahnend hob sie ihren Zeigefinger und machte ein ernstes Gesicht. »Du musst mir versprechen, dass du bei unserer Flucht niemanden ermordest.«
Diese Frau steckte voller Überraschungen. Dass sie in ihrer Situation tatsächlich an das Wohl ihrer Peiniger dachte, erschien mir verdächtig. »Ist das dein Ernst?«
Sie nickte. Also sagte ich so ehrlich und aufrichtig wie möglich: »Natürlich, ich garantiere es.« Nicht, dass ich jemals beabsichtigt hätte, mich daran zu halten. Erst musterte sie mich, dann streckte sie mir ihr Handgelenk entgegen. Doch noch bevor ich zubeißen konnte, zog sie es zurück. Abermals sah sie mir eindringlich in die Augen. »Verliere bitte nicht die Kontrolle. Es täte mir leid, dich zu töten, denn wie sollte ich dann fliehen.«
Schlagartig musste ich brüllen vor Lachen. Sie mich töten, wie denn? Mein Herz sowie mein Hals waren magisch geschützt. Sie konnte mich weder pfählen noch köpfen. Lange hatte ich nicht mehr so herzhaft gelacht. »Keine Angst, ich bin über tausend Jahre alt, ich verliere die Kontrolle nicht mehr«, erklärte ich bedacht nett und vertrauenerweckend. Sie betrachtete mich skeptisch. »Mein Blut ist anders.«
Das hatte ich doch schon gehört. Jeder Mensch, der einige Zeit in der Gesellschaft von Vampiren verbracht hat, behauptet, sein Blut sei etwas Besonderes, wohlschmeckender als das aller anderen. Leider war das doch nie der Fall. Würde sie mir nicht bald ihr Handgelenk geben, erginge es ihr später nicht besser als meinen Peinigern. Endlich fühlte ich ihre warme weiche Haut auf meinen Lippen. Genussvoll schloss ich die Augen und inhalierte ihr Bouquet. Voller Vorfreude fuhr ich die Zähne aus, als mir ihre Stimme diesen Moment verdarb. »Bitte, versuch keine neue Narbe zu hinterlassen, sondern nutze die alte. Ach ja, und ich will nicht, dass du mich meines Blutes wegen aufspüren kannst.« War die anstrengend! Kurz davor meine nette Maske fallen zu lassen, öffnete ich die Augen und entdeckte die Narbe eines alten Vampirbisses. Da ich gefesselt und geschwächt am Boden lag und sie mir ihr Blut freiwillig überließ, biss ich sie schmerzfrei. Dieser Geschmack! In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie etwas so Vorzügliches gekostet. Es war, als würde man in pures Glück beißen, besser als jede sexuelle Befriedigung. Wäre ich nicht gefesselt am Betonboden gelegen, hätte ich ihr die Kleider vom Leib gerissen und noch etwas anderes mit ihr gemacht, ob sie es wollen hätte oder nicht. Ihr Blut floss meinen Rachen hinunter und verbreitete ein Gefühl von Macht. »Ich würde sagen, das reicht!« Sie sprach nicht leise, dennoch dauerte es Sekunden, bis ihre Worte mein Bewusstsein erreichten. Sie hatte recht. Würde ich nicht aufhören, dann würde ich sie töten und das wäre eine Verschwendung. Eines war nun klar: Nach unserer Flucht würden wir keine getrennten Wege gehen. Getrennte Wege würden wir nie wieder gehen. Sie war mein. Ich würde sie behalten und ihr Blut genießen, wann immer ich es wollte. Widerwillig zog ich meine Fangzähne ein und leckte noch ein letztes Mal mit der Zunge über ihre Wunde. Mein Speichel wirkte bei Menschen heilend und von diesem Blut durfte kein Tropfen vergeudet werden.
»Und, fühlst du dich schon besser?« Sie saß neben mir und betrachtete mich neugierig. Ich fühlte mich tatsächlich stärker, eigentlich fühlte ich mich völlig gesund.
»Was ist hier los?« Einer unserer Entführer hatte gesprochen. Der ältere Mann war zurück, er packte sie am Hals und zerrte sie von mir weg. Sie schlug ihm ins Gesicht, woraufhin er zurücktaumelte, mit der Faust ausholte und ihre Lippe traf. Er hielt sie am Kragen fest und wollte erneut zuschlagen. Ich erlaubte ihm nicht, sie noch einmal zu verletzen und ihr köstliches Blut zu vergeuden. Meine Fesseln konnten mich nicht mehr halten. Spielend zerriss ich sie, sprang auf und noch bevor er sie berührte, fing ich seine Hand ab und drückte sie zusammen, bis ich seine Knochen brechen hörte. Sein warmes Blut floss über meine Finger zu Boden. Momentan übte es keinen Reiz auf mich aus, nicht nach dem, was ich gerade genossen hatte. Mit seinem minderwertigen Geschmack wollte ich mir die Erinnerung nicht verderben. Erschrocken starrte die junge Frau auf meine blutverschmierte Hand. Um unseren Entführer zu manipulieren und bewegungsunfähig zu machen, benötigte ich weniger als eine Zehntelsekunde. Meine blonde Komplizin wirkte geschwächt. Ihr kostbares Blut, das aus der Platzwunde an ihrer Lippe rann, drohte jeden Moment zu Boden zu tropfen. Ich beugte mich nach vorne, leckte mit der Zunge die Blutspur bis zu ihrem Mund entlang und von dem hervorragenden Geschmack überwältigt, küsste ich sie. Mit aller Kraft versuchte sie sich von mir zu lösen, was lustig war, weil ich ihre Verteidigungsversuche beinahe nicht bemerkte. Ich spürte, wie die Furcht in ihr wuchs und sie erregte mich, dennoch machte ich einen Schritt zurück und lächelte sie entschuldigend an. Sie würde den Rest ihres Lebens in meiner Gegenwart verbringen und es wäre mir lieber, wenn sie mich nicht fürchten würde. Angst und Hypnose waren zwar kurzfristig sehr effektiv und angenehm, um Menschen zu kontrollieren, aber langfristig mühsam. Mit ihr würde ich noch sehr viel Spaß haben. Ich blickte in ihr verängstigtes Gesicht, dann in ihre Augen, streichelte ihr beruhigend den Oberarm, hypnotisierte sie und befahl ihr, am Hauseingang auf mich zu warten. Wir würden sicher einen besseren Start miteinander haben, wenn sie nicht mitansah, wie ich die drei tötete. Bevor ich mich meiner ersehnten Rache widmete, begab ich mich in die Köpfe meiner Gefolgsleute und zeigte ihnen ein Gedächtnisbild meines neuen Menschen, des Mädchens mit dem unbeschreiblich wohlschmeckenden Blut. Nun wussten sie es alle: Die junge Frau, meinen Menschen, durften sie nicht verletzen.
Als meine Leute nach Einbruch der Nacht das Haus betraten, hatte ich gerade den dritten der Kidnapper langsam und qualvoll getötet. Auf dem Weg zu ihnen stieg ich über die Einzelteile meiner Peiniger. Zwei meiner Lakaien sollten die Spuren meiner Tat beseitigen, während ich mit den anderen der Versammlung beiwohnen würde. Beim Hauseingang traf ich auf sie, aber wo war mein Mensch? Hatten sie die Frau ins Auto gebracht? »Wo ist mein Mensch?«
Sie blickten mich ratlos an. Wie immer, wenn meine Männer glaubten, eine Nachricht würde mich nicht erfreuen, ergriff Hektor das Wort. »Vlad, Chef, es war niemand hier. Die einzigen menschlichen Wesen im Haus sind die drei Leichen. Bei unserer Ankunft standen die Türen zu Haus und Garten offen. Es scheint, als hätte sich jemand Mühe gegeben, leise zu verschwinden.«
Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Vor meinen Vampiren war es nicht nötig, meine Gefühle zu verbergen. Wutentbrannt streckte ich Hektor mit einem einzigen Schlag nieder, dann konzentrierte ich mich darauf, ihre Spur aufzunehmen. Käme ich dadurch zu spät zur Konferenz, dann sollte es so sein. Wichtig war nur sie zu finden. Warum konnte ich sie nicht riechen, ihre Fährte nicht aufspüren? Ihr Blut hatte ich erst vor Kurzem getrunken, es sollte ein Kinderspiel sein, sie zu entdecken. Fluchend und schreiend befahl ich den anderen sie aufzustöbern. Zwei Begleiter mussten als Schutz genügen. Die übrigen schickte ich auf die Suche. Wahrscheinlich war sie bereits das Eigentum eines Vampirs. Entscheidend war, sie vor ihm zu finden und heimlich zu entwenden. Ansonsten würde diese Angelegenheit jede Menge bürokratischen Hickhack bedeuten. Wem auch immer sie gehörte, er würde sie mir nicht einfach überlassen. Auf dieses Blut würde keiner unserer Art freiwillig verzichten.
Hektor und Flabius fuhren mit mir zu Michaels Firma, in der die Konferenz stattfinden sollte, während der Rest meiner Leute nach meinem Menschen suchte. Bei meiner Ankunft war nur noch der Platz neben Jeremeia frei. Bei dem Anblick meines Jungen, der mir so ähnlich sah, war ich froh, dass mein Mordversuch an ihm misslungen war. Seit ich mich neben ihn gesetzt hatte, langweilte ich mich. Erst hatte es ewig gedauert, bis Zenav die Versammlung eröffnet hatte, und nun war sie festgefahren. Kadeijosch und Michael stritten sich um irgendeinen Menschen namens Melanie. Angeblich sollte sie zum Teil ein Drache sein. Kadeijosch forderte sie ein und Tetlef unterstützte ihn dabei. Michael hatte ich immer respektiert. Mitanzusehen, wie er sich wegen eines Menschen lächerlich machte, war traurig. Was dachte er sich nur dabei? Er selbst war eine der treibenden Kräfte gewesen bei der Einführung des Gesetzes, das sterbenden Arten ein Vorrecht auf ihre zum Teil menschlichen Nachkommen gab, und nun wollte er es nicht einhalten. Obwohl die besagte Frau Terakon sprach, behauptete er eisern, sie sei kein Drache. Dass sich Jeremeia für Michael einsetzte und sich auf seine und die Seite der Sterblichen schlug, beschämte mich.
»Die Frau war uns allen ein treuer Freund und hat sowohl Jeremeia und Michael wie auch mir mindestens einmal das Leben gerettet. Man sollte ihre Wünsche berücksichtigen. Wir alle wissen, dass sie bei Michael bleiben will«, warf Andreas ein.
Was konnte an einem Menschen nur derart besonders sein, dass sich die Peri, Vampire und Elfen Salzburgs für ihn lächerlich machten?
»Ich hoffe, ich störe nicht.« Durch seine Worte aufmerksam geworden, blickte ich in Hugorios gemimt freundlich lächelndes Gesicht. Michael freute sich über sein Erscheinen und grinste verschwörerisch. Zenav, der Vorsitzende an diesem Tag, bewegte grüßend den Kopf. »Was verschafft uns die Ehre?«
»Wie ich gehört habe, wird heute über Melanies zukünftigen Werdegang entschieden. Ich muss gestehen, ich bin verwirrt, dass man mich nicht eingeladen hat. Immerhin weist sie ebenfalls ein filgurisches Merkmal auf. Von unserer Art gibt es nur noch zwei. Besteht auch nur der leiseste Verdacht, dass sie eine von uns ist, dann steht sie eindeutig mir zu. Das heißt, solange Kadeijosch nicht nachweisen kann, dass ihre Herkunft terakonischer Natur ist, sollte ihre Vormundschaft mir zugesprochen werden.« Hugorios Worte ließen Michaels Grinsen erfrieren.
»Von welchem filgurischen Merkmal sprechen wir?«, fragte Zenav neugierig.
»Wie mir berichtet wurde, ist ihr Blut für Vampire toxisch, wenn sie es wünscht. Selbstverständlich ist euch das bekannt, denn es ist eines von Michaels Hauptargumenten gegen eine terakonische Herkunft.«
Langsam wurde diese Angelegenheit interessant. Hugorio, Kadeijosch und Michael stritten sich um eine Menschenfrau, etwas, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Nie im Leben glaubte ich oder irgendjemand im Raum auch nur für eine Sekunde, dass Hugorio diese Melanie für eine Filguri hielt. Täte er es, hätte er sie sich einfach genommen und den Rest später geklärt. Soweit ich gehört hatte, sollte die besagte Frau eine Seltenheit sein. Bestimmt wollte er sie für seine Sammlung ergattern. Während Hugorio sprach, zerbrach Michael die linke Lehne seines Stuhls. Noch nie hatte ich ihn unkontrollierter erlebt. Die Menschenfrau hatte es ihm wirklich angetan, was sie für Hugorio nur noch verlockender machte. Er bekäme das Mädchen für seine Sammlung seltener Wesen und quälte damit auch noch Michael, besser könnte es für ihn nicht laufen.
Zenav wurde das Ganze zu heikel. »Michael, da diese Geschichte immer delikater wird, schlage ich vor, dass du Melanie herbringen lässt.«
Michael zerstörte die zweite Lehne des Stuhls und atmete tief durch, dann erst nahm er sein Telefon zur Hand und befahl seinen Männern sie in seine Firma zu bringen.
Seit mir meine blonde Fluchtgehilfin entkommen war, waren mehrere Stunden vergangen. Neugierig dachte ich mich in die Köpfe meiner Vampire und erkundigte mich, ob sie die junge Frau gefunden hatten. Es war ihnen gelungen, sie aufzuspüren. Sie war in Begleitung einer Vampirfrau und eines Menschenmannes. Meine Leute hatten die drei aus einiger Entfernung beobachtet und warteten auf weitere Instruktionen. Keinesfalls wollten sie einen feindseligen Akt ohne meine Zustimmung begehen. Bevor ich ihnen befehlen konnte das Mädchen zu entführen, änderte sich alles. Hektor berichtete, zwei von Michaels Peris seien aufgetaucht. Sie nannten meinen neuen Menschen Melanie und erklärten ihr, sie müsse mitkommen. Kadeijosch, Hugorio und Michael stritten sich also um jene Frau, deren Blut mich geheilt und mir zur Flucht verholfen hatte. Erschüttert überlegte ich. Sollte ihr Blut, wenn sie es wünschte, tatsächlich giftig sein, dann würde es alles erschweren. Andererseits ließen sich verliebte Menschen normalerweise freiwillig beißen. Wie schwer konnte es schon sein, ihr Herz zu gewinnen? Hektor machte so etwas doch ständig. Ihm war noch jede verfallen. Ich wollte sie nach wie vor, auch wenn es nur für kurze Zeit wäre. Es galt also klug zu sein und meine nächsten Schritte genau zu kalkulieren.
Es ist einige Monate her, seit mein friedliches Leben für immer verändert wurde. Ich hatte gedacht ein gewöhnlicher Mensch zu sein, ohne besondere Fähigkeiten, ohne Gaben, aus einer Familie ohne Geheimnisse. Auch wenn mein früheres Leben angenehm gewesen war, in meinem neuen hatte ich etwas Unbezahlbares gefunden, meine erste große Liebe - Michael. Ich konnte nicht behaupten, er wäre selbstlos, unegoistisch und würde keiner Fliege etwas zuleide tun, denn es wäre gelogen. Er war auch nicht in meinem Alter, aber ich liebte ihn und das war alles, was zählte.
Seit uns Ryoko vor zwei Tagen besucht hatte, war Michael recht angespannt. Die unzähligen Male, die ich ihn fragte, ob ich in Schwierigkeiten sei, verneinte er stets. Als er in den Raum kam, kostete es ihn nur einen kurzen Blick in meine Augen, um zu erkennen, wie es in meinem Inneren aussah. Er nahm mich liebevoll in den Arm. »Melanie, glaube mir, es ist alles in Ordnung. Ich liebe dich, ich werde nicht zulassen, dass dir jemand wehtut«, flüsterte er beruhigend, während er mich am Hals küsste.
Genau das machte mir Angst, denn ich fühlte, dass er mehr sich selbst Mut zusprach als mir. »Es ist nur so, dass du dich seit Ryokos Besuch merkwürdig benimmst.«
»Das bildest du dir ein. Du hattest gestern deine letzte Prüfung. Also, was möchtest du heute gerne unternehmen? Ich habe mir den ganzen Tag für dich freigenommen.«
Es war bereits der dritte Tag in Folge, den er für mich reserviert hatte. Wenn ich es mir recht überlegte, hatte er seit Ryokos Aufenthalt überhaupt nicht mehr gearbeitet. Die beiden vergangenen Tage hatte er damit verbracht, mich beim Lernen zu beobachten. Man könnte meinen, ich wäre todkrank und er wolle nicht riskieren, auch nur eine Sekunde meiner verbleibenden Zeit zu verpassen. Bedroht hatte mich Ryoko gewiss nicht, er wollte mir nichts Böses. Was also hatte Michaels Verhalten ausgelöst? In Gedanken vertieft ging ich zum Fenster und betrachtete den frisch verschneiten Garten. Der Schnee inspirierte mich. Obwohl mindestens vierzig Zentimeter Neuschnee lagen und kein Schlitten diesen überwinden würde, nötigte ich Michael auf die Rodelbahn. Schweigend stapfte er neben mir durch den weißen Wald, wobei er mich wie ein Habicht beobachtete. Keine Sekunde ließ er mich aus den Augen. So irritierend sein Benehmen auch war, ich genoss die Aufmerksamkeit, die er mir entgegenbrachte. Die kühle Luft und die Schönheit des verschneiten Waldes ließen mich meine Sorgen vergessen. Aus einem inneren Impuls heraus umarmte ich ihn übermütig und rang ihn zu Boden. Es gelang mir nur, weil er es zuließ. Laut lachend unter mir liegend wischte er mir die blonden Haare aus dem Gesicht. »Ich liebe dich, du gehörst mir. Wehe dem, der versucht dich mir wegzunehmen.«
Da waren sie wieder, meine Sorgen. »Michael, du willst mir nicht sagen, was los ist, aber bitte, bevor du irgendetwas Dummes tust, wie mit Hugorio einen Pakt zu schließen oder dergleichen, sprich zuvor mit mir.«
Verspielt küsste er mich auf den Mund. »Verstehe ich dich richtig? Du verwendest Hugorio als Synonym für den Teufel.« Dann wurde sein Gesichtsausdruck ernst. Nachdenklich blickte er durch mich hindurch, bis er plötzlich mit mir im Arm aufsprang, mich auf die Beine stellte, die Handflächen auf meine Wangen legte und mir euphorisch einen Kuss auf den Mund drückte. »Melanie, du bist ein Genie!« Übermütig wirbelte er mich im Kreis und ließ mich auf den Holzschlitten gleiten. »Halt dich fest!«
Ich schaffte es gerade noch, mich am Schlitten festzuklammern, da rannte er bereits in Peri-Geschwindigkeit mit der Schlittenleine den Hang hinunter. In dem Moment, in dem sich die Leine spannte, fuhr die Rodel mit einem heftigen Ruck los. Michael war schnell, übermenschlich schnell. Bei diesem Tempo schlug mir der Schnee peitschend ins Gesicht. Bald fühlten sich meine Wangen wie Eisklötze an. Ein Schneemann, der auf einem Schlitten saß und fror, das war ich. Sobald ich ihm zurufen wollte, er solle stehen bleiben, schoss mir der von den Kufen verdrängte Schnee in den Mund und hinderte mich am Sprechen. Erst als wir beim Auto ankamen, drehte er sich zu mir um. Bei meinem Anblick lächelte er verlegen. »Schatz, verzeih! Warum hast du nichts gesagt?«
Schlotternd vor Kälte stieg ich ab und klopfte mir beleidigt den Schnee von der Kleidung. Meine Wangen waren starr, meine Kleidung klamm und ich konnte nicht sprechen. Zum Glück, denn im ersten Moment hätte ich ihm am liebsten den Kopf abgerissen.
Er wickelte mich in die Decke, die er stets im Kofferraum hatte, und hob mich auf den Beifahrersitz, während ich ihn mit bösen Blicken strafte. Zur Wiedergutmachung schlug er vor, mich in ein nettes, kleines Restaurant einzuladen. Doch nachdem ich mich im warmen Auto wieder einigermaßen gefasst hatte, bevorzugte ich es, ein heißes Bad in Michaels Villa zu nehmen und mich als Entschädigung von ihm verwöhnen zu lassen. Mit Michael zusammen zu sein, machte mich glücklich, und er wusste mein Glück zu schätzen, es lag in seiner Natur.
Was ich auch tat, seine blauen Augen verfolgten mich. Auch wenn er in meiner Gegenwart zufrieden schien, bedrückte ihn etwas. Woher kam diese Empfindung meinerseits? Wenn er mich umarmte, fühlte es sich an, als versuchte jemand, mich ihm zu entreißen. Er beobachtete mich nicht nur, er bewachte mich. Gingen wir in einen Raum voller Leute oder begegneten uns Personen auf der Straße, analysierte er alle. Sein Verhalten begann mich zu irritieren. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, es wäre nur eine Laune oder ich würde es mir einbilden. Doch die Tage vergingen und er verhielt sich immer öfter, als würde er mich verlieren. Jede freie Minute verbrachte er mit mir. Meistens arbeitete er vormittags und während ich schlief. Michael war ein Peri, aber nicht irgendein Peri, sondern der mächtigste Österreichs nach seinem Vater. Peris sind Elfenwesen. Als solches brauchte er keinen Schlaf. Selbstverständlich war es ihm möglich zu schlafen, doch er konnte sich auch mit meiner Energie regenerieren. Je glücklicher ich war, desto weniger Schlaf benötigte er. Wie ich vor einigen Monaten erfahren hatte, nähren sich Peris von der Energie der Menschen. Genauer gesagt, von jener Energie, die Menschen ausstrahlen, wenn sie glücklich oder euphorisch sind. Genügt ihnen die dadurch ausgestrahlte Energie nicht, so können sie diese auch gewaltsam entreißen. Entziehen sie aber zu viel davon, werden die Opfer depressiv und selbstmordgefährdet. Interessanterweise unterschied sich meine Energie von jener der anderen Menschen. Ein Peri hatte mir erzählt, dass sie reiner, qualitativer und stärker sei. Er hatte betont, dass ich ein Peri sein müsste, um zu verstehen, was er meinte. Wenn man ehrlich war, haben Peris kein Interesse daran zu schlafen. Sie holen sich, was sie brauchen, von den Menschen. Wie ich herausgefunden hatte, ist mein Vater ebenfalls ein übernatürliches Wesen. Auch wenn ich nicht wusste, was er war, erklärte es, warum ich mich von den anderen Menschen unterschied. Mein ganzer Körper wurde von goldenen Linien umfasst, wenn man sie durch einen Enttarnungszauber sichtbar machte. Die Ursache dieser Linien war aber nicht meine Abstammung. Diese Linien waren eine filgurische Sybielle, eine Art goldener Käfig, ein uralter Zauber, der meine übernatürlichen Fähigkeiten, die ich von meinem Vater geerbt hatte, einschloss. Er sollte es mir unmöglich machen, meine Kräfte zu nutzen. Trotzdem kam es vor, dass ich es tat, indem ich die goldenen Zeichnungen auf meinem Körper von mir wegdrückte. Spätestens, wenn ich meine Konzentration unterbrach, schnalzten sie zurück und verletzten mich. Als Folge blutete meine Nase, ich litt unsagbare Schmerzen und es schnürte mir die Luft ab. Aus diesem Grund hatte ich sehr viel Zeit in Michaels Gegenwart bewusstlos verbracht. Eine Frage blieb offen, auch wenn die meisten glaubten, die Antwort zu kennen. Was war ich? Laut den Drachen war ich eine von ihnen. Dennoch war ich mir sicher kein Drache zu sein, da ich Ryoko, den ersten Drachen, den ich je gesehen hatte, anfangs nur als solchen wahrnehmen konnte, und das, obwohl er gerade seine menschliche Form gehabt hatte. Wäre mein Vater ein Drache, dann hätte ich ihn ebenfalls als solchen gesehen. Nur ein übernatürliches Wesen teilte meine Überzeugung, kein Drache zu sein: Martellius, Michaels Vater, einer der besonnensten und gutmütigsten Peris, die ich bisher getroffen hatte.
Die Tage vergingen und es näherte sich der März. Wir waren ein glückliches und verliebtes Paar, trotzdem verhielt sich Michael weiterhin, als wäre ich todkrank, als könnte ich jeden Tag sterben. Einer tausendfünfhundert Jahre alten Person musste ein menschliches Dasein erschreckend kurz erscheinen. Als ich sein Verhalten nicht mehr ertrug, beschloss ich ihn zur Rede zu stellen: »Michael, was ist los? Ich weiß, du findest ein menschliches Leben viel zu kurz, aber ich bin erst dreiundzwanzig, sich wegen meiner Sterblichkeit den Kopf zu zerbrechen, ist sinnlos. Eines Tages werde ich sterben, sich deshalb zu sorgen, wird nichts daran ändern. Es würde uns nur hindern, die Zeit, die wir haben, zu genießen.«
Geduldig wartete er, bis ich ausgesprochen hatte, dann schüttelte er amüsiert den Kopf. »Ich liebe dich! Deine Sterblichkeit bereitet mir kein Kopfzerbrechen, jetzt noch nicht.« Bevor ich ihn weiter zur Rede stellen konnte, küsste er mich. Tausend Fragen waren mir durch den Kopf gegangen, doch er löschte sie alle mit seiner Zärtlichkeit.
Am Samstag vor Semesterbeginn hatten meine Universitätsfreunde und ich vereinbart, gemeinsam Ski zu fahren und anschließend das Salzburger Nachtleben unsicher zu machen. Michael war nicht begeistert den Tag mit Andreas zu verbringen, dennoch begleitete er mich.
Vor einem Monat hatte sich herausgestellt, dass Andreas, einer meiner besten Studienfreunde, übernatürlich und ebenso mächtig wie Michael war. Die Anwesenheit von Astrid, Alexandra und Franz störte meinen Peri nicht. Sie waren Menschen, und sollten sie ihm lästig werden, würde er sie einfach verzaubern und nach Belieben manipulieren. Andreas und Michael hatten bis vor Kurzem geglaubt Gegenspieler zu sein. Ich vermutete, dass Michael deswegen Phillipe und Stefan, zwei seiner Peris, zum Skifahren mitnahm, genauso wie Andreas Zarek und Alexei, zwei seiner Lichtelfen, mitbrachte. Sie wussten, wie man aus einem freundschaftlichen Treffen, das Vergnügen bereiten solle, eine beängstigende Zusammenkunft machte.
Wir, meine Peris, die Elfen und ich waren vor den anderen im Skigebiet angekommen. Peris und Elfen standen sich gegenüber und ich frustriert in deren Mitte. Verdrossen entfernte ich mich von meinen Freunden, die sich gegenseitig misstrauten. »Erinnert mich daran, nie wieder mit Michael und Andreas gemeinsam etwas zu unternehmen«, bat ich sie gereizt.
»Ich bin ganz deiner Meinung. In Zukunft lässt du Michael zu Hause.« Andreas konnte unausstehlich sein. Ich blickte ihn entnervt an, woraufhin er seine Aussage ergänzte: »Melanie, du interpretierst die Situation völlig falsch. Wir haben unsere Leute nicht mitgebracht, weil wir uns misstrauen. Wenn ich solche Angst vor Michael hätte, wäre ich nie alleine zu ihm ins Haus gekommen.« Michael schüttelte nur amüsiert den Kopf und klopfte Andreas auf die Schulter. »Lass uns Ski fahren, alter Freund!« Dann kam er zu mir, legte den Arm um mich und wir warteten auf meine und Andreas‘ Universitätsfreunde.
Astrid, Alexandra und Franz brachten noch jemanden mit, einen gut aussehenden jungen Mann namens Marcel mit dunkelblonden Haaren und strahlend blauen Augen. Er war der Mann, den ich in London vor Madame Tussauds angerempelt hatte und der sich bei unserem Wiedersehen im Bus beinahe vor mir gefürchtet hätte. Diesmal erinnerte er sich an mich. »Wir kennen uns«, seufzte er und blickte mir unverfroren in die Augen. »Verfolgst du mich?«
»Nein, du mich? Immerhin lebe ich schon länger hier«, antwortete ich und zeigte ihm mit einem gehässigen Blick, wie sehr mich seine Anwesenheit störte. Astrid war durch unser unerwartet feindseliges Verhalten irritiert. »Marcel studiert das kommende Semester auf unserem Institut Informatik. Ich habe ihn letzte Woche im Techno-Z kennengelernt«, erklärte sie, um die Harmonie aufrechtzuerhalten. Dann appellierte sie an unser beider Vernunft. »Ihr werdet euch noch oft begegnen.«
»Wie nett«, antworteten Marcel und ich synchron und sarkastisch. Unser kurzer feindseliger Austausch war niemandem entgangen. Michael platzierte sich scheinbar zufällig zwischen mich und Marcel. Er verdeckte den Mann, der nicht viel größer war als ich, während er weiterhin mit Andreas sprach. Michael und Andreas verhielten sich, als wären sie die besten Freunde. Es war unheimlich! Vor ein paar Wochen hatten sie einander nach dem Leben getrachtet, nun fehlte nur noch, dass sie Bruderschaft tranken.
Da wir endlich vollständig waren, machten wir uns gemeinsam auf den Weg zu den Liften. Den ganzen Vormittag fuhren wir die Pisten auf und ab. Ich bin eine sehr gute Skifahrerin. Meine menschlichen Kollegen hängte ich ohne Schwierigkeiten ab, doch mit Michael und meinen anderen übernatürlichen Begleitern mit ihrer außergewöhnlichen Körperbeherrschung in Bezug auf Schnelligkeit, Kraft und Reflexe konnte ich nicht mithalten. Als wir gegen Mittag eine Skihütte aufsuchten, war ich völlig erschöpft. Michael hingegen sah aus, als hätte er den Vormittag zu Hause vor dem Fernseher und nicht auf einer Skipiste verbracht.
Ich hatte mich darauf gefreut, zur Abwechslung wieder einmal mit Astrid oder Alexandra zu sprechen. Doch als ich mich an den Tisch setzte, nahm Michael zu meiner Linken und Andreas zu meiner Rechten Platz. Astrid, die von Marcel fasziniert zu sein schien, setzte sich mit ihm an die gegenüberliegende Tischseite. Alexandra saß in meiner Nähe, doch Phillipe schien an ihr interessiert zu sein und beanspruchte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Unglücklich sah ich mit an, wie er begann Alexandra zu verführen, und Michael beobachtete mich. Es gefiel mir nicht, dass sein Peri meine menschliche Freundin umgarnte. Die Absichten eines Peris sind zumeist nicht die edelsten. Michael zog mich zu sich, fasste mein Kinn mit den Fingern und drehte meinen Kopf sanft in seine Richtung, um mir in die Augen zu sehen. »Mach dir nicht so viele Sorgen. Sie ist erwachsen, er ist erwachsen und er wird sie zu nichts zwingen.«
»Er wird sie auch nicht verzaubern?« Zweifelnd musterte ich Phillipe, der bei unserem ersten Treffen keine Skrupel gehabt hätte, mich magisch in sein Bett zu manipulieren. Dieser zwinkerte mir freundschaftlich zu und nickte bestätigend. Er hatte Michael und mich gehört.
Mit meinen beiden menschlichen Freundinnen kam ich somit nie ins Gespräch, daher unterhielt ich mich hauptsächlich mit Michael, Andreas und Stefan. Stefan war Michaels Sohn und sein treuester Gefolgsmann. Nicht selten stellte er die Bedürfnisse seines Vaters über die eigenen. Oft schon hatte ich seine Fürsorge seinem Vater gegenüber bewundert. In der Hütte wurde es ihm bald zu langweilig, deswegen verließ er uns, um wieder Ski zu fahren. Michael und ich blieben mit den anderen am Tisch sitzen. An Gesprächsstoff fehlte es uns nie. Wir plauderten, scherzten und liebkosten einander. Nachdem wir längere Zeit spaßeshalber diskutiert hatten, griff sich Michael an die Stirn. »Ich bin ein sehr altes, erfahrenes und weises Wesen, das heißt, ich habe recht«, stellte er schließlich blödelnd fest. »Interessant, und ich dachte, du wärst der Beweis dafür, dass Alter und Weisheit nicht zwingend miteinander einhergehen«, erwiderte ich frech. Michael schmollte und Marcel lachte, während er mich ansah, als wäre ich ihm liebevoll vertraut. Als er bemerkte, dass ich mich ihm zugewandt hatte, drehte er sich abweisend von mir weg. Womit ich mir Marcels Feindseligkeit verdient hatte, verstand ich nicht.
Michaels warme Lippen, die sich plötzlich auf meine pressten, fegten jeden Gedanken an Marcel aus meinem Bewusstsein. Glücklich lehnte ich mich gegen Michaels Brust und beobachtete Andreas, der, wie so oft, seinen Charme spielen ließ. Ich kannte keinen ungenierteren Weiberhelden als ihn. Die hübsche Hüttenwirtin, die bereits auf seinem Schoß saß, lud uns zu einer Après-Ski-Party ein. Als die Lifte gegen Abend geschlossen hatten, ging der Rest der Gruppe noch auf die besagte Party. Michael und ich schlichen uns bei der ersten Gelegenheit davon. Wir hatten andere Pläne: den Whirlpool, die Sauna in Michaels Wellnessbereich sowie unbeschreibbar guten, leidenschaftlichen Sex.
Am nächsten Morgen erwachte ich alleine in unserem Bett. Michael hatte mir nicht einmal wie üblich eine Nachricht hinterlassen. Nägelkauend wartete ich auf seine Rückkehr. Erst gegen Mittag kam er, begleitet von Ryoko und Kadeijosch, nach Hause. Ich mochte die beiden Drachen. Sie strahlten Ruhe, Geduld und Vertrautheit aus. Ryoko hatte in seiner Drachenform türkise Schuppen mit einem gelben gezackten Muster, das an seinem Kopf begann und an seiner Schwanzspitze endete. Sein menschliches Aussehen wirkte südländisch. Kadeijoschs Schuppen waren ockergelb mit einem goldenen Muster auf der Stirn. Sein menschlicher Körper, welcher mir im Augenblick gegenüberstand, war nicht viel größer als ich. Wie auch beim letzten Mal trug er eine Brille, von der ich mit Gewissheit wusste, dass er sie nicht benötigte. Glücklich eilte ich ihnen entgegen. Anstatt meine Hand zu schütteln, nahm sie Kadeijosch und zog mich in eine Umarmung. Dann entfernte er sich von mir, legte seine Hände auf meine Wangen, berührte für eine kurze Weile mit seiner Stirn die meine und blickte mir tief in die Augen. Wie schon in London spürte ich die Bedeutung dieser Geste, ohne sie zu verstehen. Ryoko nickte mir zu. »Hallo, kleine Schwester!«
Michael hatte unsere Begrüßungen unglücklich verfolgt. Da gab es etwas, das ihm Sorge bereitete, doch bevor wir alleine waren, konnte ich ihn unmöglich fragen, was es war. Panisch drückte er mich an sich und würgte widerwillig heraus: »Kadeijosch würde sich freuen, wenn du ihm die Stadt zeigst.« Michaels Verhalten irritierte und ängstigte mich. Instinktiv wich ich einen halben Schritt von Kadeijosch zurück.
»Melanie, keine Angst, ich würde doch nie das einzige weibliche Wesen, das zur Hälfte Drache ist, verletzen«, sagte Kadeijosch, der ein aufmerksamer Beobachter war, und sah mich warmherzig an. »Auch ohne dieses Wissen würde ich dich nie verwunden, geschweige denn kampflos zulassen, dass es jemand anderer tut.«
»Kadeijosch, wie oft habe ich es dir schon gesagt? Ich bin kein Drache! Ich weiß nicht, was ich bin, aber ein Drache bin ich nicht.«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Melanie, mein kleiner, süßer Sturkopf, sollen wir aufbrechen?«, erwiderte er in Terakon, einer genetischen Sprache, die angeblich nur von Drachen gesprochen und verstanden werden kann. Mir war nicht bewusst, wenn ich Terakon sprach. Sprach Kadeijosch Terakon, tat ich es auch. Der einzige Grund, weshalb ich wusste, welche Sprache wir benutzten, war, dass Michael uns nicht verstand.
Nicht ich zeigte Kadeijosch Salzburg, sondern er führte mich durch die Stadt und erzählte mir viele geschichtliche Details, die man nicht in Lehrbüchern findet. Wie in London strahlte Kadeijosch Weisheit, Geduld und Seriosität aus. Am Domplatz nahm er meine Hand, drehte mich zu sich und betrachtete mich wohlwollend. »Melanie, wir müssen sprechen. Erinnerst du dich noch, wie du in London nach den Auswirkungen deiner Herkunft gefragt hast?«
Natürlich erinnerte ich mich. Hatte er damals gelogen? Würde er mir nun gestehen, dass er mir die Wahrheit verschwiegen hatte. Mit ängstlich aufgerissenen Augen starrte ich ihn erschrocken an und wartete.
»He, kleiner Drache, keine Angst, ich habe dich nicht belogen. Die Konsequenzen sind gleich geblieben. Ich habe dir ja erklärt, dass du vielleicht einen Monat bei uns wohnen müsstest. Wir wollten, dass du uns im Februar besuchst. Du hättest auf der Universität nichts verpasst. Wie wichtig dir das gewesen wäre, weiß ich.«
Abwehrend schüttelte ich den Kopf. »Oh nein! Am Montag habe ich mein erstes Seminar. Ich kann nicht aus Salzburg weg. Letzten Monat wäre ich eurem Wunsch nachgekommen. Es ist März, vor Mitte Juli habe ich keine Zeit. Ihr hättet bei dem ursprünglichen Plan bleiben sollen.«
»Das war ja auch unsere Absicht, aber Michael hat sich geweigert, dich gehen zu lassen. Er hat die amerikanischen Drachen um deren Hilfe gebeten und diese fordern nun eine Zusammenkunft in deiner Anwesenheit. Michael will um jeden Preis verhindern, dass du deinen Monat bei uns verbringst. Er hofft auf ihre Unterstützung.«
Warum hatte Michael ein so enormes Problem damit, wenn ich einen Monat bei den Drachen leben würde? Vertraute er mir nicht? Egal was seine Beweggründe gewesen waren, er hatte mich erneut belogen. Wie konnte er nur? Er hatte mir versprochen, er würde ehrlich zu mir sein. Nun bereute ich, dass ich den Februar nicht genutzt hatte, um mich nach einer neuen Wohnung umzusehen. Wir waren so glücklich gewesen, dass ich das vergessen hatte.
»Melanie? Melanie!« Als Kadeijosch meinen Namen zum zweiten Mal aussprach, schüttelte ich den Kopf, um mich aus meinen Gedanken zu reißen und blickte ihn wartend an. Es dauerte kurz, bis er sprach. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Habe ich nicht. Wann ist dieses Treffen?«
»In wenigen Stunden. Ich nehme dich noch heute mit nach London. Ich weiß, es ist kurzfristig, aber es wurde mir selbst eben erst mitgeteilt. Die Amerikaner sitzen bereits im Flugzeug.« Er sah mich entschuldigend an. Er wusste, ich mochte es nicht, wenn man mir keine Wahl ließ und jeder Widerstand meinerseits zwecklos wurde. Ich hatte weder die Kraft noch den Einfluss mich ihnen zu widersetzen. In der übernatürlichen Welt war ich nicht mehr als ein Spielball. »Wie lange bleiben wir in London?«
»Das wird sich zeigen.«
Resignierend schloss ich die Augen, atmete tief durch und überlegte, wie ich diese Reise umgehen könnte. Als ich den Mund öffnete, um zu sprechen, kam mir Kadeijosch zuvor: »Melanie, die Amerikaner sitzen bereits im Flugzeug.« Er sah auf seine Uhr. »Wir sollten zu Michael zurückkehren. Wir müssen bald aufbrechen. Du hast deine Koffer noch nicht gepackt.«
Schweigend machten wir uns auf den Weg. Meine Wut und Frustration über meine eigene Wehrlosigkeit konnte ich kaum ertragen. Wie sehr ich es hasste, wenn man mich zu Dingen zwang, die ich nicht wollte! Bei unserer Rückkehr war Michael nicht im Haus. Ohne ein Wort eilte ich über die Treppe ins Schlafzimmer. Kadeijosch folgte mir. Ich hatte keine Vorstellung davon, was mich erwarten würde. Zumindest war ich mir sicher, dass sie kein Interesse daran hatten, mich zu verletzen. »Benötige ich spezielle Kleidung?«
»Nein, aber du solltest bedenken, dass Winter ist.«
Während ich meine Sachen packte, stand er geduldig im Flur. Nachdem ich den Reißverschluss meines Koffers geschlossen hatte, nahm er ihn unaufgefordert und ging die Treppe hinunter. Michael, der inzwischen zurückgekommen war, wartete im Wohnzimmer auf uns. Ich war nach wie vor stinksauer auf ihn und sah ihn lieblos und vorwurfsvoll an. »Du hast mich schon wieder belogen, ganz abgesehen von deiner ewigen Bevormundung.«
Seine Körperhaltung, sein Gesichtsausdruck sowie sein Schweigen wirkten hilflos. Auch wenn ich mich wütend von ihm abwandte und Kadeijosch wortlos aus dem Haus folgte, hätte ich ihn am liebsten getröstet.
Vor dem Haus wartete Ryoko. Als er uns sah, öffnete er die Tür eines Taxis für uns. Ich musste sehr ängstlich gewirkt haben, denn als wir losfuhren, legte Kadeijosch aufmunternd den Arm um mich. »Melanie, es wird dir nichts geschehen. Man will dich nur kennenlernen.«
Nickend sah ich zum Fenster hinaus. Das Wetter spiegelte meine Emotionen wider. Schwarze Wolken zogen sich zusammen und verdeckten den blauen Horizont. Einzelne Regentropfen klatschten auf den Asphalt und hinterließen dunkle Kreise auf der Straße. Würde es wenigstens schneien, dann könnte das Flugzeug eventuell nicht starten und ich bräuchte Salzburg nicht zu verlassen. Die Drachen versuchten nicht mich aufzumuntern, sie wussten es besser. Sie hatten erkannt, dass ich Zeit für mich benötigte, und respektierten dies.
Man sollte versuchen, in allem etwas Positives zu finden. Schlagartig besserte sich meine Laune. Hoffnungsvoll lächelte ich Kadeijosch an. »Können wir in London ein wenig auf Sightseeing gehen?«
Bejahend legte er den Arm um meine Schultern und führte mich erleichtert zum Gate. Im Flieger löcherte ich ihn mit Fragen. »Du hast gesagt, die amerikanischen Drachen kommen. Unterscheiden sie sich von euch?«
»Nein, sie gehören dem amerikanischen und wir dem europäischen Drachenklan an, das ist alles. Wie dir bekannt ist, haben wir unseren offiziellen Hauptsitz in London.«
»Wie viele Klans gibt es?«
»Nur noch vier.«
»Gibt es noch viele reinblütige männliche Drachen?«
Er schüttelte verneinend den Kopf. »Melanie, du solltest dich etwas ausruhen. Die anderen dürften bereits in London angekommen sein. Bestimmt wollen sie sofort beginnen und es könnte eine lange Nacht werden.«
»Kommen sie nur, um mich kennenzulernen?«
»Nein, ihr Besuch war seit Langem geplant. Nachdem Michael sie kontaktiert hatte, beschlossen sie die Angelegenheiten miteinander zu verbinden.«
»Wenn Michael für meine Londonreise verantwortlich ist, warum hat er dann so niedergeschlagen gewirkt?«
»Das musst du ihn selbst fragen.«
Kurzerhand lehnte ich mich mit dem Kopf gegen seine Schulter und versuchte zu schlafen. Am Flughafen in London wartete Tibi, der gelbe Drache, den ich nach Weihnachten kennengelernt hatte, auf uns. Er begrüßte meine zwei Reisebegleiter mit einem kräftigen Händedruck, mich beachtete er nicht.
»Der Plan hat sich geändert, sie wollen sich mit uns in den schottischen Highlands treffen. Vermutlich ist es Tetlefs Idee, er liebt die Highlands«, erklärte er den anderen.
»Also kein Sightseeing für mich«, flüsterte ich enttäuscht und folgte ihnen zum Gate.
Der Frieden zwischen den Drachen schien gestört. »Kadeijosch, ist das notwendig? Der ganze Ärger, nur wegen ihr. Sie will nicht einmal hier sein. Außerdem ist ihr Drachenanteil verschwindend klein, wir wissen noch nicht einmal, von wem sie abstammt. Jetzt müssen wir diese Angelegenheit auch noch vor den Amerikanern rechtfertigen. Verheimlicht ihr etwas? Ryoko und du, ihr wart euch noch nie so einig«, hörte ich Tibi, der vor mir ging, sprechen. Kadeijosch blickte zu mir, lächelte und wandte sich wieder Tibi zu. »Sie ist interessant. Seit wann lassen wir uns von Peris einschüchtern?« Die Frage, ob Ryoko und er etwas verheimlichten, ignorierte er. Sie hatten Wort gehalten und nicht verraten, dass ich ein Halbling war. Halbling, so wurden Menschen genannt, die einen übernatürlichen Elternteil hatten. Ich machte einen schnelleren Schritt, um mit Kadeijosch und Ryoko auf gleicher Höhe zu sein. »Danke!«, hauchte ich leise. Ryoko zerzauste mit der Handfläche mein Haar. »Wir haben es doch versprochen.« Tibi warf uns einen frustrierten Blick zu, der Ryoko zum Weitersprechen animierte. »Du würdest uns einen großen Gefallen tun, wenn du uns von unserem Versprechen entbindest. Tibi kannst du vertrauen. Gewiss sichert er dir Stillschweigen zu.«
Der gelbe Drache schüttelte verständnislos den Kopf. Er klang gekränkt, als er hervorwürgte: »Was auch immer ihr mir verheimlicht, ich schwöre, ich würde es keinem sagen.«
»Wenn du ihn einweihst, würde diese ganze Angelegenheit sicherlich weniger unangenehm«, gab Kadeijosch zu bedenken. Oft hatte ich das Gefühl, Kadeijosch und ich wären bereits ewig befreundet, also fragte ich: »Kann ich ihm wirklich trauen?« Er nickte und ich atmete tief durch: »Was soll’s? Inzwischen wissen es viele und die meisten vermuten es. Ich bin ein Halbling.« Bevor ich es verraten hatte, hatte Tibi entnervt und unbeeindruckt gewirkt, nun starrte er mich ungläubig und überrascht an. Es sollte sich nicht noch ein weiterer Drache unnötig Hoffnungen machen. »Aber ich bin mir sicher, dass mein Vater kein Drache ist«, sagte ich, um Missverständnisse auszuschließen.
»Ja, ja, das haben wir schon gehört«, flüsterte Ryoko.
»Melanie, akzeptiere es endlich, du bist ein Drache. Wenn du Terakon sprichst, bist du ein Drache«, erklärte Kadeijosch. Tibi schwieg. Während wir gemächlich zu unserem Flieger schlenderten, wurde sein Kopf von Sekunde zu Sekunde röter. Die vereinzelten Schneeflocken, die durch die Luft wirbelten, schienen an seinen Wangen zu verdampfen. Wahrscheinlich würde er jeden Moment Feuer speien.
Im Airbus nahmen wir unsere Plätze in der Business-Class ein. Tibi, der mit Ryoko in der Reihe vor uns saß, starrte verbissen aus dem Fenster, bis er sprichwörtlich explodierte: »Wie konntet ihr mir diese Information vorenthalten? Ihr hättet es mir sagen müssen.«
Besänftigend legte Ryoko die Hand auf die Schulter seines Freundes. »Sie hat es uns anvertraut. Wir haben es ihr versprochen, das musst du doch verstehen. Hätten wir nicht Wort gehalten, hätten wir ihr Vertrauen verloren.«
»Kann es jemand bezeugen? Können wir sicher sein, dass sie ist, was sie behauptet?«
»Moravia war ihr Babysitter. Sie bot Michael an, es zu beeiden.«
Kadeijosch neben mir gefiel es nicht, dass ich ihre Unterhaltung verfolgte, daher erzwang er meine Aufmerksamkeit, indem er mich in ein Gespräch verwickelte. »Melanie, sei nicht enttäuscht. Die schottischen Highlands sind im Winter ein unvergleichliches Erlebnis. Wusstest du, dass sie der am dünnsten besiedelte Teil Schottlands sind? Wenn wir Zeit haben, zeige ich dir die Seeküste. In London darfst du mich besuchen, wann immer du willst. Ich bin jederzeit bereit, mit dir eine Stadtführung zu machen.«
Er war mir gegenüber stets sehr zuvorkommend. Ob seine Einladung und sein Angebot, mit mir die Stadt zu besichtigen, reine Höflichkeiten waren oder ob er tatsächlich Lust dazu hatte?
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was in Schottland auf mich zukam. Bei dem Gedanken daran wurde mir mulmig zumute. Doch egal, was es war, wie eine Feder im Wind hatte ich keine andere Wahl, als mich treiben zu lassen und abzuwarten, wohin mich mein Weg führen würde. Aber im Gegensatz zu einer Feder konnte ich sprechen. »Was steht mir in Schottland bevor? Was wird von mir erwartet? Ihr wisst, mein Körper ist der eines gewöhnlichen Menschen.«
»Was die Amerikaner wissen wollen, kann ich dir nicht sagen, aber ich verspreche, dir den Rücken freizuhalten.«
Tibi, der mich inzwischen mit anderen Augen betrachtete, blickte über seine Schulter zurück. »Das gilt auch für uns. Für dich gibt es keinen Grund zur Furcht. Wegen unserer Vertrauenswürdigkeit brauchst du dich nicht zu sorgen. Ein in Terakon gegebenes Versprechen nehmen wir sehr ernst.« Er warf Ryoko und Kadeijosch einen kurzen, lieblosen Blick zu. »Wie du gesehen hast.«
Wir landeten in Inverness, wo ein weißer Range-Rover für uns bereitstand. Wieder wählte Kadeijosch den Platz neben mir auf der Rückbank des Autos. Während unserer Fahrt ins Landesinnere konnte ich leider nicht viel erkennen, da es mittlerweile dunkel geworden war.
»Melanie, du solltest ein wenig schlafen. Wir werden sicherlich die restliche Nacht wach bleiben. Dass dein Körper nicht stärker als der eines Menschen ist, hast du selbst gesagt. Du benötigst mehr Schlaf als wir.« Nachdem Kadeijosch gesprochen hatte, öffnete er den Arm in meine Richtung und berührte mit der anderen Hand einladend seine Schulter. Ich nahm sein Angebot an, lehnte mich an ihn und schlief ein.
Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Erst die zärtliche Berührung von Kadeijoschs Hand an meiner Wange brachte mich aus meinem traumlosen Schlaf in die Realität zurück. »Wir sind da«, flüsterte er.
Verschlafen blickte ich aus dem Fenster. Auf einer Lichtung vor uns ragten fünf mindestens sechs Meter hohe, runde Säulen gen Himmel. Jede von ihnen trug eine trichterförmige Schale, in der ein offenes Feuer loderte. »Das Treffen findet im Freien statt?«, erkundigte ich mich ablehnend. Ja, das tat es, Kadeijoschs‘ Antwort ließ keinen Zweifel übrig. Er hatte gesagt, die Zusammenkunft könnte die ganze Nacht dauern. Um stundenlang draußen zu bleiben, war es viel zu kalt. »Ihr wisst, dass es Winter ist?«
Diesmal lächelte er mich charmant an. »Wenn dir kalt wird, darfst du dich gerne an mich kuscheln.«
Flirtete er mit mir? Nein! Oder vielleicht doch? Wenn ich es mir recht überlegte, könnte man sein gesamtes Verhalten an diesem Tag als Flirt verstehen. Es war für mich selbstverständlich gewesen, dass wir nur Freunde waren. Nie im Leben wäre mir die für mich absurde Idee gekommen, er könnte an mir interessiert sein. Seinem Gehabe gegenüber war ich blind gewesen.
Gemeinsam stiegen wir aus dem Auto und gingen auf die Lichtung zu. Im dumpfen Schein der fünf Fackeln war eine große Wiese, umgeben von kleinen Hügeln, zu erkennen. Dort warteten bereits mehrere Drachen auf uns. Sie waren um einiges kleiner als meine Begleiter, die in ihrer Drachenform alle in etwa 25 Meter lang waren. Als wir den Fackelkreis betraten, verbeugten sie sich vor meinen männlichen Weggefährten, die andeutungsweise ihre Köpfe in deren Richtung senkten. Im Zentrum der Lichtung gab es eine steinerne Tribüne, auf welcher, ebenfalls aus Stein, ein breiter Tisch mit fünfzehn Stühlen stand. Ryoko und Tibi nahmen auf zweien der Sitze in der Mitte Platz. Einige der kleineren Drachen folgten ihrem Beispiel und setzten sich links neben die beiden. Während die Sitze rechts von meinen Reisebegleitern frei blieben, war zu ihrer Linken nur ein Stuhl unbesetzt. Ich hatte gelernt, die menschliche Form der Drachen wahrzunehmen, indem ich mich auf Begrenzungen konzentrierte. In London hatte ich mir die Tatsache zunutze gemacht, dass die Drachen in dem Ballsaal keinen Platz gehabt hätten. Da ich für einen Tag genügend Drachen zu Gesicht bekommen hatte, versuchte ich mich auf natürliche Begrenzungen zu konzentrieren, um sie als Personen zu sehen, aber es gab nur wenige. Dank des Tisches gelang es mir, die Sitzenden als solche zu erkennen. Für die Drachen, die sich auf der Wiese befanden, fehlten mir jedoch jegliche Anhaltspunkte. Bis auf einen, der eine Reisetasche in der Hand hielt, sah ich alle nach wie vor als Drachen.
»Sie werden bald kommen.« Ich hatte Kadeijosch neben mir vergessen und zuckte vor Schreck zusammen, als er zu sprechen begann. Er zeigte auf den Mann mit der Tasche. »Sie haben ihn vorweggeschickt. Er hält ihre Kleidung bereit. Du solltest die anderen jeden Moment entdecken.«
Warum hatte er ihre Kleidung dabei? Oh, jetzt verstand ich. Erwartungsvoll blickte ich in den Himmel. Bald konnte ich in weiter Entfernung die breiten Flügel eines Drachen ausmachen. Er war riesig und hatte mindestens Kadeijoschs Größe. Der Anblick des sich nähernden Drachen war beeindruckend, aber auch sehr beängstigend. Beim Landeanflug breitete er seine Schwingen aus und segelte elegant auf uns zu. Seine Schuppen schimmerten im Licht der Fackeln in einem strahlenden Granatrot. Mit erhobenem Haupt landete er anmutig in der Mitte der Wiese. Freundlich nickte er den anderen zu. Dann reichte ihm der Mann mit der Tasche seine Kleidung. Dieses Indiz genügte mir, um ihn in seiner humanoiden Form zu sehen. Er trug nun einen langen blauen Ledermantel passend zu seinen kurzen, blaugefärbten Haaren. Selbstbewusst nahm er neben Ryoko Platz und wartete. Der nächste ankommende Drache war schwarz. Im Fackellicht schien er von einem silbernen Schleier umgeben. Er nahm die Kleidung und den gescheckten Fellmantel, der ihm gereicht wurde, entgegen und begab sich zu dem großen Steintisch. Seine menschliche Form war ungewöhnlich. Er war groß und breit gebaut, hatte eine Glatze und einen schwarzen, nach oben geschwungenen Oberlippenbart. Ihm folgten drei kleinere Drachen, die sich neben den blauhaarigen setzten. Wer keinen Stuhl mehr bekam, stellte sich hinter den sitzenden Männern auf. Nur zwei Plätze blieben frei. Einer neben Tibi und einer zwischen dem schwarzen und dem roten Drachen.
Fasziniert hatte ich das Schauspiel beobachtet. Wie ferngesteuerte Marionetten hatten sie agiert, ohne zu kommunizieren. Jeder hatte genau gewusst, was zu tun war. Kadeijosch stand nach wie vor neben mir. Der rote Drache begann zu reden, vermutlich sprach er Terakon, denn es gab für ihn keinen Grund Deutsch zu sprechen und für mich hörte es sich danach an. »Warum verärgert ihr wegen dieses Menschleins Michael? Er ist ein langjähriger Freund und Verbündeter. Wer interessiert sich eigentlich für sie, einer eurer Halblinge?«
Als Antwort griff Kadeijosch nach meinen Schultern und drehte mich zu sich. Wie schon so oft legte er seine Handflächen auf meine Wangen, berührte mit seiner Stirn für kurze Zeit die meine, entfernte sich wieder und blickte mir in die Augen. Dann ließ er mich stehen und setzte sich auf den freien Platz neben Tibi.
Der Mann, der gefragt hatte, musterte mich ungehalten. »Ist das dein Ernst? Du lehnst ständig Achteldrachinnen ab, nur wegen ihr?«
»Tetlef, sie ist kein Mensch, sie spricht Terakon.«
Endlich verstand ich die Bedeutung dieser Geste. Sie bekundete Kadeijoschs‘ Interesse an mir. Er war es, der um mich warb und dem ich meinen Aufenthalt bei den Drachen verdankte. Ich war ihnen nicht nur harmlos vorgestellt worden. Kadeijosch bezeugte bereits sein Interesse an mir, was bedeutete, dass ich ohne Zweifel einen ganzen Monat bei ihnen verbringen müsste. Im ersten Moment fühlte ich mich vor den Kopf gestoßen. Doch ich konnte nicht wütend auf ihn sein, nur weil er mich mochte. Eine andere Frage stellte sich jedoch: Wann hatte er mich zum ersten Mal auf diese Art begrüßt oder verabschiedet? War es in London nach oder vor meinem Geständnis, ein Halbling zu sein? Nach kurzem Überlegen erinnerte ich mich daran. Es war nach unserem ersten Gespräch gewesen. Wenigstens begründete sich sein Interesse nicht in meiner Herkunft. Die Frage war, ob er ohne dieses Wissen genau so hartnäckig um mich kämpfen würde? Ich mochte Kadeijosch, aber ich liebte Michael. »Kadeijosch, du weißt, ich werde Michael wählen.«
»Wie willst du dich entscheiden, wenn du mich kaum kennst? Ich bestehe auf meinem Monat. Kann ich dich nicht für mich gewinnen, werde ich es akzeptieren.« Mit seinen Worten hatte er die restlichen Drachen zum Feixen gebracht.
»Kadeijosch, kann ich deinen Entschluss nicht ändern? Ist er unumstößlich?«, fragte Tetlef. Kadeijosch, der ockerfarbene Drache, nickte bestätigend.
»Im Austausch gegen das Mädchen bot Michael an, sich mit Lorens Fluch zu beschäftigen. Es wäre eine einmalige Gelegenheit. Bisher hatte sich jeder geweigert, aus Angst in einen Konflikt mit Hugorio zu geraten.« Diesmal hatte der schwarze Drache Henry gesprochen. Unbeirrt schüttelte Kadeijosch den Kopf.
»Wenn sich einer von uns für eine Frau entscheidet, sollten wir ihn dann nicht unterstützen?«, ergriff Ryoko wütend das Wort. Tibi wollte ebenfalls klarstellen, auf wessen Seite er stand. »Gebt es auf, er wird auf Melanie nicht verzichten.«
Henry warf mir einen anstößigen Blick zu. »Kadeijosch, ich kann ihre Reize sehen. Warum amüsierst du dich nicht eine Weile mit ihr, danach gibst du sie Michael zurück. Ihr Drachenanteil ist verschwindend klein, sie wird sich nicht zu fest an dich binden.«
Energisch legte Kadeijosch die Handflächen auf den Tisch. »Sie ist kein Spielzeug, behandle sie gefälligst mit Respekt!«
Der Glatzkopf zwirbelte nachdenklich seinen Oberlippenbart. »Wenn es nur die geringste Chance gibt, unseren Bruder von seinem Leiden zu erlösen, sind wir verpflichtet, sie zu nutzen. Er quält sich nun schon so lange.«
Meine Drachen blieben hartnäckig, bis ihre Gäste resignierten. »Dann muss ich Michael bedauerlicherweise mitteilen, dass wir nichts für ihn tun können.«
Der Mann mit den blauen Haaren fixierte mich mit seinen blauen Augen. »Dein Terakon klingt perfekt. Seit wann praktizierst du unsere Sprache?«
Ich sah ihn verständnislos an. »Wie meinen Sie das?«
»Was ist daran schwer zu verstehen? Wie lange lernst du unsere Sprache.«
»Wieso sollte ich Terakon lernen? Es ist doch angeblich eine genetische Sprache. Wir sprechen doch Terakon, oder? Ich meine, warum sollten sie mit Kadeijosch auch Deutsch sprechen.«
Die meisten meiner Gesprächspartner betrachteten mich ratlos. Hilflos blickte ich zu meinen drei Drachen, die sich köstlich amüsierten. Tetlef wurde langsam gereizt. Doch was sollte ich tun? Ich wusste nicht, was er von mir hören wollte. Ryoko erlöste mich. »Melanie weiß nicht, welche Sprache sie spricht. Als wir sie kennenlernten, war es ihr gänzlich unbewusst, dass sie Terakon mit uns sprach. Sie passt sich einfach ihrer Umgebung an. Reden wir Terakon, tut sie es auch. Sagen, um welche Sprache es sich handelt, kann sie dir aber nicht. Sie vermutet, dass wir normalerweise Englisch sprächen. Da sich unsere Unterhaltung für sie wie Deutsch, ihre Muttersprache, anhört, denkt sie, dass wir Terakon reden.«
Tetlef bewegte neugierig seinen Oberkörper in meine Richtung. »Wie interessant.«
Mir war es nach wie vor ein Rätsel, warum ich Terakon lernen sollte, aber dies war weder der Ort noch die Zeit, um das Geheimnis zu lüften.
Eisiger Wind peitschte um unsere Körper und ließ mich vor Kälte erzittern.
»Macht ein Feuer! Wir wollen das Mädchen doch nicht erfrieren lassen. Melanie begib dich hinter deinen zukünftigen Mann!«
Hatte er Kadeijosch soeben als meinen zukünftigen Mann bezeichnet? Vor den Kopf gestoßen wollte ich protestieren, doch Kadeijosch kam mir zuvor: »Tetlef, mich ihren zukünftigen Mann zu nennen, ist etwas voreilig. Noch hat sie sich nicht zu mir bekannt und diese Entscheidung liegt bei ihr.«
Tetlef verdrehte gelangweilt die Augen. »Natürlich! Melanie, stell dich einfach hinter Kadeijosch!«
Sich hinter ihn zu begeben könnte eine tiefere Bedeutung haben oder ein Zugeständnis sein. Ich wollte kein Risiko eingehen. Ihre Bräuche, Rituale und Gesten verstand ich nicht, daher blieb ich an Ort und Stelle stehen.
»Jetzt mach schon!«, wurde Tetlef ungeduldig. Wie damals in London bei Kadeijosch verspürte ich ein nahezu unbeherrschbares Verlangen seinem Wunsch Folge zu leisten. Aus Angst, ich könnte ungewollt eine Verpflichtung eingehen, rührte ich mich nicht vom Fleck. »Welche Bedeutung hätte es, wenn ich mich hinter meinen Freund stellte?«
Entgeistert schlug er mit der Hand auf den Tisch, dann blickte er zu meinen drei Reisebegleitern, die das Schauspiel weiterhin gut gelaunt verfolgten. Verärgert durchbohrte mich Tetlef mit seinem Blick. Drohend befahl er es mir erneut, doch ich verweigerte ihm den Gehorsam abermals. Schnell, ohne sichtbaren Kraftaufwand, sprang er hinter dem Tisch in die Höhe und landete lautlos vor mir. Seine Augen fixierten mich wütend, während ihm der Wind sein blaues Haar in die Stirn wehte. Fassungslos beobachtete ich, wie er langsam seinen Mund öffnete und weiße Nebelschwaden ausatmete. Bald war ich von dichtem Nebel umgeben. Vor Schreck erstarrt, schaffte ich es nicht, meinen Blick von seinen mit schwarzem Kajal umrandeten blauen Augen zu lösen. Sein Kopf wurde länger und sein Körper schien sich zu dehnen. Plötzlich verspürte ich den wachsenden Drang, aus meiner eigenen Haut auszubrechen. Mein Kopf würde gleich explodieren. Verzweifelt drückte ich meine Hände gegen mein Gesicht. »Hör auf, bitte!« Jeden Moment würde ich die Grenzen meines Körpers sprengen.
»Es reicht! Tetlef, ich warne dich.« Kurz nachdem Kadeijosch gesprochen hatte, verschwand der Nebel und mit ihm der Druck. Vorsichtig nahm ich die Hände vom Gesicht. Tetlef war wieder auf seinen Platz zurückgekehrt und Kadeijosch, der nun neben mir stand, legte tröstend den Arm um mich. »Komm mit, stell dich hinter mich!«
Keine Sekunde länger als nötig wollte ich in der Nähe dieses blauhaarigen Drachen verweilen. »Kann ich nicht im Auto warten?«, bat ich ihn hoffnungsvoll.
Kadeijosch sah mir wohlwollend in die Augen. Ohne den Blick von mir zu wenden, hob er die Hand, fing den Autoschlüssel, der ihm von Tibi zugeworfen wurde und übergab ihn mir. An ihre außerordentlichen Reflexe und körperlichen Fähigkeiten würde ich mich nie gewöhnen.
Erleichtert marschierte ich den kleinen Hang zum Auto hinauf. Von dort konnte ich weder sehen noch hören, was auf der Wiese vor sich ging, und das war mir auch recht. Um nicht zu erfrieren, holte ich mir aus meinem Koffer einen weiteren Wollpullover, den ich mir noch zusätzlich unter meinem Mantel anzog. Im Kofferraum des Wagens fand ich eine dicke Decke. In diese eingemummelt, legte ich mich auf die Rückbank und versuchte zu schlafen. Sowie ich meine Augen schloss, sah ich die Nebelschwaden aus dem Maul des roten Drachen aufsteigen und erinnerte mich an den damit verbundenen Druck. Etwas in mir sehnte sich danach, diesem Druck nachzugeben. So beängstigend es auch gewesen war, ein kleiner Teil von mir hatte es sich gewünscht.
Das Motorengeräusch eines Autos, das die Schotterstraße entlang auf mich zu raste, riss mich aus meinen Gedanken. Mit quietschenden Reifen wurde es auf den freien Parkplatz hinter meinem Fahrzeug gerissen. Ich verhielt mich absolut ruhig. Wer auch immer es war, ich wollte von ihm nicht entdeckt werden. Wie erstarrt beobachtete ich im Rückspiegel, wie ein Drache aus dem Auto stieg, und hörte das Knirschen des Schotters unter seinen Sohlen. Was die Beherrschung meiner Fähigkeiten betraf, hatte ich dazugelernt. Denn kaum dachte ich mir ›würde ich ihn nur als Mensch sehen‹ sah ich anstelle des Drachen einen jungen mürrischen Mann, der von Schmerzen gepeinigt an meinem Auto vorbeihinkte. Auf Höhe meines Autofensters pausierte er und musterte mich finster. Ein panischer Schrei lag auf meinen Lippen, bereit sich jäh zu lösen, doch der Mann wandte sich ab und humpelte zu den anderen. Jede seiner Bewegungen schien mit qualvollen Schmerzen verbunden zu sein.
Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen den dichten Morgennebel und weckten mich aus meinem ohnehin nicht tiefen Schlaf. Das Treffen der Drachen hatte die gesamte Nacht gedauert. Langsam machte ich mich auf den Weg zu ihnen. Der hinkende Mann, den ich vom Auto aus gesehen hatte, saß auf jenem Platz, den die Drachen am Vorabend frei gehalten hatten. Der Wind wehte ihm seine langen blonden Haare ins Gesicht, wodurch seine erbarmungslosen grünen Augen beunruhigend betont wurden. Die Kälte, die er ausstrahlte, fühlte sich wie ein Eisblock in meinem Nacken an.
Vor dem großen Steintisch waren mehrere Senaven versammelt. Laut und energisch argumentierten sie mit den Drachen, die stets ruhig und gelassen antworteten. Die Senaven hatte ich zum ersten Mal in Salzburg getroffen, als sie Alexandro, Michaels Enkel, entführt hatten. Damals schlug ich sie alleine in die Flucht. Diese Wesen hatten einen menschlichen Körper, doch ihre Augen leuchteten violett und ihre Zähne hatten die Form wie die von Haien. Die Ausbuchtungen auf ihrer Stirn waren wulstig und begannen am Nasenrücken. Die auf den Wangen waren sichelförmig und violette Muster überzogen ihre Leiber.
Unbeirrt näherte ich mich der Szene vor mir. Einer der Senaven hatte mich bereits entdeckt. Abschätzend sah er in meine Richtung. Tibi bemerkte mich ebenfalls und befahl mir Abstand zu diesen Wesen zu halten. Durch Tibi auf mich aufmerksam geworden, wandte sich mir eine weitere dieser Kreaturen zu. Es war jener Senave, welcher in Salzburg um ihr aller Leben gebettelt hatte. Er erkannte mich und verbeugte sich respektvoll vor mir. »Wir sehen uns wieder. Es ist mir eine Ehre.«
Seine Artgenossen starrten ihn entgeistert an. Erst als er fordernd die linke Hand ausstreckte, folgten die anderen seinem Beispiel und bezeugten mir ihre Ehrerbietung. Nicht wissend, welche Reaktion angebracht war, nickte ich ihm ernst zu und machte einen Schritt nach vorne. Woraufhin sie sofort auseinander traten und ein Spalier für mich bildeten. Langsam und erhobenen Hauptes schritt ich zwischen ihnen hindurch zu den Drachen. Den Senaven gegenüber wollte ich keine Schwäche zeigen, doch die misstrauischen, verwirrten und teilweise beschuldigenden Blicke der Drachen überraschten mich, also blieb ich verlegen stehen. Kadeijosch deutete auf den Stehplatz hinter sich, diesmal nahm ich ihn diskussionslos ein. Es war gewiss nicht der richtige Zeitpunkt, um mit ihm zu diskutieren.
»Ihr bleibt dabei, es ist euer letztes Wort?«, sagte Ryoko zu dem Senaven. Dieser sah mich fragend an. Als ich nicht reagierte, wartete er. Er erbat meine Erlaubnis die Verhandlungen nach seinen Wünschen fortführen zu dürfen.
»Ich denke nicht daran, Stellung zu beziehen. Weder kenne ich den Ursprung eurer Diskussion noch die Beweggründe beider Seiten.« Nachdem ich gesprochen hatte, nickte mir das Wesen mit den violetten Augen wohlwollend und anerkennend zu. Bald wurden Senaven und Drachen sich einig - uneinig zu sein, daher verließen sie uns. Die ungeteilte Aufmerksamkeit und die Augen der Drachen wurden nun auf etwas völlig anderes gerichtet, nämlich auf mich. Unsicher blickte ich von einem zum anderen, suchte in ihren Augen Halt, Verständnis, irgendetwas, doch ich fand nichts.
»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte Kadeijosch nach einer gefühlten Ewigkeit mit sanfter Stimme.
»Was meinst du?« Meine Stimme glich der eines eingeschüchterten Kindes.
»Warum verbeugen sich die Senaven vor dir?«, klang Kadeijosch wie immer ruhig und gefasst.
Ich wusste, es gab keine richtige Antwort. Er oder Michael würden mit mir unglücklich sein. Verriet ich dem Drachen zu viel, würde Michael es mir vorwerfen. Verheimlichte ich ihm etwas, dann könnte Kadeijosch negativ reagieren. »Vielleicht könntest du das Michael fragen.«
»Melanie, ich frage dich!«
»Können wir unter vier Augen darüber sprechen?«
»Es wäre unseren Gästen gegenüber beleidigend.«
»Ich kann sie töten.«
»Das kann ich auch, aber vor mir haben sie sich nicht verbeugt oder mich um mein Einverständnis gebeten.«
»Ja, aber ich kann jeden Senaven in meiner Umgebung mit nur vier Worten töten.«
»Hast du es bereits getan?«
»Nein, beim letzten Mal hörte ich nach dem dritten Wort auf und erlaubte ihnen zu flüchten.«
»Woher weißt du, dass du es kannst?«
Ich hatte es bei meinem Vater gesehen. Er ließ viele von ihnen mit dem vierten Wort brennen, aber nicht alle. Jahrelang hatte mich die Erinnerung daran in meinen Träumen verfolgt. »Diese Frage kann ich hier leider nicht beantworten«, erklärte ich Kadeijosch.
»Wann hast du sie getroffen?«, fragte er unbeirrt weiter.
Ich zuckte mit den Achseln. Ich war nicht bereit noch weitere Informationen preiszugeben.
Frustriert schüttelte er den Kopf. »Wann lernst du endlich uns zu vertrauen?«
Auch wenn ich ihm gegenüber inzwischen freundschaftliche Gefühle hegte, wie gut kannte ich ihn wirklich? Ich wusste so gut wie nichts über ihn. »Wenn man dir zuhört, könnte man meinen, wir hätten schon Monate miteinander verbracht. Es ist erst das zweite Mal, dass wir uns treffen, und wie viel Zeit hatten wir, um uns auszutauschen? Nicht viel. Ich finde, mein Vertrauen zu dir hätte nicht rascher wachsen können. Außerdem sind wir nicht alleine.«
Eine nervenraubende Stille breitete sich über der Lichtung aus. Schließlich stand Kadeijosch auf und legte den Arm beschützend um meine Schultern. »Na komm, du hast bestimmt Hunger, fürs Erste sind wir hier fertig.«
Ich wollte in Richtung Auto gehen. »Warte hier«, stoppte mich Kadeijosch und joggte an mir vorbei zum Wagen. Mit meinem Koffer in der Hand kam er zurück und ging mit mir einen schmalen mit Steinen gepflasterten Hohlweg entlang. Alle folgten demselben Weg. Einzig mein ockergelber Drache und ich bewegten uns in menschlicher Geschwindigkeit. Eine scharfe Rechtskurve führte zu einem Dorf mit Steinhäusern aus einer anderen Zeit, versunken in lichtem Nebel. Es war ein idyllischer und märchenhafter Anblick. Ich hatte keine Zeit, den Drachen neben mir zu beachten, zu sehr war ich damit beschäftigt, die Häuser zu bewundern. Hier gab es keine asphaltierten Straßen, nur geschotterte Wege. Vor uns floss ein kleiner halb zugefrorener Bach. »Kadeijosch, das ist wunderbar. Ich fühle mich wie ein Zeitreisender. Ich liebe diesen Ort.«
»Diese Gebäude nennen sich Croft Houses. Sie haben weder Elektrizität noch Zentralheizung. Ich hoffe, du änderst deine Meinung nicht doch noch.«
»Auf keinen Fall, auch wenn ich Holz hacken muss, tue ich das nicht. Sicher, auf Dauer wäre es mühsam so zu leben, aber für ein paar Tage ist es doch ein verlockendes Abenteuer. Findest du nicht?«
Kadeijosch begann laut zu lachen. »Ich habe Jahrhunderte so und teilweise noch viel weniger komfortabel gelebt. Aber du kannst beruhigt sein, das Fehlen von Elektrizität und Zentralheizung war nur ein Scherz. Die Häuser bieten inzwischen doch einigen Komfort. Die alten Koch- und Feuerstellen sind nur noch als Relikte vorhanden. Wir haben auch keine Schlafschränke mehr, wie sie früher üblich waren.«
Am oberen Ende des Ortes, entlang des Flüsschens, sah ich eine kleine alte Mühle. Fasziniert zeigte ich in deren Richtung, packte seine Hand und rannte los, vorbei an Hauseingängen und Schuppen. Er hatte kein Problem mit meiner Geschwindigkeit mitzuhalten. Nachdem ich genügend Zeit gehabt hatte, um den Ort zu bewundern, folgte ich Kadeijosch zu einem Haus am südlichen Rand des Dorfes. Selbst die Eingangstür war antik. Neugierig betrat ich es. Es war fantastisch. Ich hatte das Gefühl ein Museum zu betreten. In der Küche fiel mein erster Blick auf die Feuerstelle, über der ein massiver Kessel auf einem Eisengestänge hing. Im Vorübergehen ließ ich meine Finger über die Oberfläche des alten Holztisches gleiten. Das glatte speckige Holz fühlte sich gut an. Erst jetzt bemerkte ich den Elektroherd, der sich nahe der Feuerstelle befand. Von der Küche führte eine Tür in einen Wohnraum. Ein überdimensionaler Fernseher und eine moderne Stereoanlage, die gegenüber einer gemütlichen Couch in einem Regal standen, stachen mir schmerzlich ins Auge - was für ein Stilbruch! Ich schritt zu dem prall gefüllten Bücherregal. Ein in Leder gebundenes Buch erweckte meine Aufmerksamkeit. Vorsichtig zog ich es heraus. Mit den Zeichen, die in das Leder geprägt waren, wusste ich nichts anzufangen. Die Sprache, in der es verfasst war, konnte ich nicht zuordnen. Behutsam stellte ich es an seinen Standort zurück. Dann entdeckte ich eine weitere Tür. Durch sie gelangte man in eine kleine Kammer. Nüchtern betrachtet handelte es sich bei dieser um ein Doppelbett mit Tür. Dieses Haus bot nicht viel Platz. Hatte Kadeijosch mit seinen Familien, die er, wie ich vermutete, über die Jahrhunderte hinweg gehabt hatte, hier gelebt? Neugierig wandte ich mich ihm zu. »Du hattest doch bestimmt schon des Öfteren Kinder. Wo war euer Kinderzimmer? Wie hat es in dieser Hütte funktioniert?«
Er lächelte. »Ja, ich habe in diesem Haus manche meiner Sprösslinge großgezogen. Du weißt, ich besitze mehrere Wohnorte, aber ich habe es bevorzugt, sie hier aufzuziehen. Auf jeden Fall so lange, bis sie vier Jahre oder älter waren. Kleinkinder genießen es, mit Papa und Mama auf engem Raum zu wohnen. In der Nähe der Eltern fühlen sie sich immer am wohlsten. Selbst wenn man hundert Zimmer besitzt, spielen sie in der Nähe der Mutter. In einem solchen Heim fühlen sie sich geborgen und glaube mir, Kinder lieben diese kleine Kammer dort.« Zufrieden schwelgte er in Erinnerungen. Wie gerne hätte ich den Film gesehen, der sich vor seinem geistigen Auge abspielte.
»Wie viele Söhne hast du?«
»Fünf lebende. Ich hatte auch mehrere Töchter, doch sie sind alle während der Kriege mit den Filguri ums Leben gekommen. Diese unheilvollen Kriege kosteten mich viele meiner Kinder.«
Er senkte traurig den Kopf. Mit meiner unbedachten Frage hatte ich alte Wunden aufgerissen. Mitfühlend umarmte ich ihn. »Es tut mir leid.«
Er küsste mich freundlich auf die Stirn. »Der Fluch eines langen Lebens.«
Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, seine Zuneigung und seine Fürsorge gefielen mir. Es bedeutete nicht, dass ich Michael weniger liebte. Ich mochte Kadeijosch, und seine Lebenserfahrung faszinierte mich. Er führte mich in die Küche zurück und machte uns Frühstück: Eieromelett mit Schwarzbrot und Tee. Dass er nur fünf Söhne hatte, hatte mich überrascht. Soweit ich ihre Kultur inzwischen verstand, heirateten die männlichen Drachen zweckmäßig, seit es keine weiblichen Drachen mehr gab, um ihre Art vor dem Aussterben zu bewahren. Die Achteldrachinnen wurden gewiss nicht viel älter als Menschen. Ich nahm an, dass jede von ihnen sich eigene Kinder wünschte. Die halben Drachen würden vermutlich wesentlich älter, wenn sie nicht sogar unsterblich waren. Da musste er doch mehr als fünf lebende Söhne haben.
»Melanie, was beschäftigt dich?« Kadeijoschs geduldige Stimme riss mich aus meinen Überlegungen.
»Wie kommt es, dass du nicht mehr Kinder hast? Manche Menschen haben mehr Nachkommen als du. Ich dachte, ihr Drachen heiratet am laufenden Band, um eure Art zu erhalten.«
Er stockte kurz, bevor er in ohrenbetäubendes Lachen ausbrach. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, sah er mich ernst an. »Jetzt verstehe ich, warum du mir keine Chance geben willst. Das klingt ja schrecklich! Du hast also die Vorstellung, dass wir Kinder wie am Fließband produzieren, in der Hoffnung eine Tochter zu zeugen. Glaubst du, dass wir unsere Heiratsentscheidungen einzig und alleine vom Drachenanteil der Frauen abhängig machen? Erstens liegt meine letzte Ehe über fünfzig Jahre zurück. Natürlich wünsche ich mir eine Partnerin, trotzdem gebe ich mich nicht mit einer Frau zufrieden, die mich nicht inspiriert, selbst wenn sie zu hundert Prozent eine Drachin wäre. Zweitens habe ich mich bereits für dich interessiert, bevor ich wusste, dass du ein Halbling bist, und drittens sind wir nicht sehr fruchtbar. Kommt es zu einer Schwangerschaft, so ist es ein seltenes Glück.«
Verlegen zog ich meine Schultern zusammen und senkte den Kopf. Mein Wissen über die Drachen war nicht nur beschränkt, es war eigentlich gar nicht vorhanden. Was auch immer Tetlef am Vorabend mit mir getan hatte, es verfolgte mich. Wie der Reiz des Verbotenen nagte der Gedanke an den dichten Nebel und den damit verbunden Druck an mir. Wie konnte man etwas, das einen vor Furcht erstarren ließ, so herbeisehnen? »Kadeijosch, letzte Nacht, als Tetlef über den Tisch sprang und diesen Nebel ausatmete, verspürte ich den Drang aus meinem eigenen Körper auszubrechen. Bitte erkläre es mir?«
Über meine Frage war er nicht glücklich. »Er wollte dich verwandeln«, antwortete er zögernd.
Dieser Scheißkerl wollte mich tatsächlich verzaubern. Noch mehr als seine Absicht störte mich, dass ich seine Magie gespürt hatte. Man konnte mich doch nicht magisch beeinflussen. Auf jeden Fall war es bisher so gewesen. »In was?«, fragte ich ungehalten und Kadeijosch drohte abermals in einen Lachschwall zu fallen. »In einen Drachen.«
»Aber er dachte doch, mein Drachenanteil wäre verschwindend gering.«
»Auch wenn du dich nicht groß verändert hättest, in diesem Zustand müsstest du ihm gehorchen. Er ist ein reiner Drache - du nicht.«
»Weshalb hast du ihn gestoppt?«
»Erstens hattest du Angst, zweitens hatte er massiv in deine Privatsphäre eingegriffen und drittens ist es mein Privileg dir dabei zu helfen.« Er streichelte mir liebevoll über die Wange. »Melanie, bei deiner ersten Verwandlung sollte dir ein Drache beistehen, dem du vertraust.«
Seine Berührung weckte in mir ein Gefühl von Sicherheit. In seiner Nähe würde es niemand wagen, mich zu verletzten. Dennoch entfernte ich mich mit zusammengekniffenen Lippen von ihm und schüttelte vehement den Kopf. Wenn ich wirklich ein Drache wäre, würde meine filgurische Sybielle eine Verwandlung schmerzvoll, wenn nicht tödlich machen. Ich hatte keine Lust herauszufinden, wie mein goldener Käfig darauf reagieren würde. »Ich will mich nicht verwandeln.«
»Es muss dir beängstigend erscheinen, aber glaube mir, diese Erfahrung willst du nicht missen.«
»Wenn ich in der Tat ein Drache bin und du mich zur Transformation zwingst, dann tötest du mich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es für mich ein langsamer und qualvoller Tod wäre.«
Kadeijosch griff, in dem Versuch mich zu beruhigen, mit den Händen nach meinen Wangen. »Eine Verwandlung ist absolut ungefährlich.«
»Nicht für mich.« Er war unschlüssig, ob ich es ernst meinte oder nicht. Auf der Suche nach einer Antwort musterte er mein Gesicht. »Du glaubst das wirklich?«
Ich sah ihn eindringlich an. »Kadeijosch, ich glaube es nicht nur, ich weiß es.«
Sollte er mich trotz meiner filgurischen Sybielle verwandeln, würde sie mich töten, sobald meine Konzentration oder sein Einfluss brach, davon war ich überzeugt. Die Frage war, was gefährlicher wäre: Kadeijosch von den goldenen Linien auf meinem Körper zu erzählen oder nicht. Ohne ein Wort stand ich auf und setzte mich mit angezogenen Beinen auf das Schafsfell vor der Feuerstelle, in der inzwischen ein kleines Feuer loderte. Gebannt starrte ich in die Flammen, spürte deren Wärme auf meinen Wangen und debattierte mit mir selbst, bis ich beschloss, ihm die Wahrheit anzuvertrauen. Täte ich es nicht, würde ich vielleicht noch während meines Aufenthalts zur Verwandlung gezwungen und getötet. Als würde ich mich selbst beobachten, registrierte ich, wie ich ferngesteuert aufstand, mich vor den Drachen, welcher bewegungslos auf einem der Holzstühle saß, stellte und vorsichtig fragte: »Kennst du einen Spruch, der versteckte Zauber visualisiert?«
»Wir sind magische Wesen, doch wir zaubern nicht mit Sprüchen, wie die Peris. Es ist von der verwendeten Magie abhängig, doch vermutlich müsste ich in meiner Drachenform sein, um sie erscheinen zu lassen. Erkläre mir doch einfach, worum es geht?«
»Sagt dir der Begriff filgurische Sybielle etwas?«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein. Wer?« Wut blitzte in seinen Augen auf. Er nahm meine Hand, zog mich aus dem Haus und über den kleinen schmalen Hohlweg zurück zum steinernen Tisch. Um mit seinem Tempo Schritt zu halten, rannte ich. Ohne Vorwarnung hatte er mich aus dem Haus gescheucht, daher trug ich nur einen Pullover und fror. Er verlor keine Zeit, sofort entfernte er seine Kleidung. Auch wenn ich darauf nicht stolz war, betrachtete ich aus den Augenwinkeln heimlich und hingebungsvoll seinen fantastisch gebauten Körper. Ein amüsiertes Grinsen zuckte auf seinen Lippen, bevor er sich verwandelte. Er hatte es also bemerkt. Umgeben vom Hitzeflimmern der scheinbar kochenden Luft verschwamm seine menschliche Erscheinung und dehnte sich aus. Im nächsten Moment stand der große ockergelbe Drache, als welchen ich ihn bei unserer ersten Begegnung gesehen hatte, vor mir. Er berührte mich vorsichtig mit dem Kopf und meine goldenen Linien erschienen. Dann entfloh ihm ein erbarmungsloses Brüllen, das mir durch Mark und Bein fuhr und mich vor Schreck zurückspringen ließ. In seinem aufgerissenen Maul reflektierten weiße Reißzähne das Sonnenlicht.
»Melanie, ich weiß, dir ist kalt, aber könntest du bitte den Pullover ablegen. Ich möchte die Zeichnungen auf deiner Haut genauer betrachten«, bat er mich mit tiefer grollender Stimme. Er zog den Kopf nach hinten, und als er ihn wieder nach vorne streckte, spie er Feuer und entzündete damit einen Holzstapel in meiner Nähe. Danach wartete er geduldig. Ich stellte mich neben das brennende Holz und zog den Pullover aus. Nun konnte er nicht nur die Linien in meinem Gesicht und an meinen Händen, sondern auch jene auf meinen Armen begutachten.
»Ich habe kein Recht zu fragen, aber ich würde gerne deinen Oberkörper sehen«, klang er diesmal behutsam.
Misstrauisch den Kopf von Seite zu Seite drehend suchte ich unsere Umgebung ab, um sicherzugehen, dass uns niemand beobachtete. Ich hatte ihn auch nackt gesehen und es genossen. Außerdem gibt es optisch kaum Unterschiede, ob man ein Bikinioberteil oder einen BH trägt. Also schlüpfte ich schüchtern aus dem Hemd. Der Drache begutachtete die drei Symbole zwischen meinen Linien. Dann berührte er mich erneut und die Zeichnungen verschwanden. Er verwandelte sich in seine menschliche Form. Entkleidet bot er wahrhaftig einen schönen Anblick. Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu, woraufhin er verführerisch lächelte. »Wenn du willst, darfst du mich gerne in aller Ruhe betrachten.«
Verflixt, war das peinlich! Meine Wangen glühten vor Scham, als ich mir verlegen auf die Unterlippe biss. »Entschuldige.«
»Warum, ich freue mich über dein Interesse.«
Ich war schrecklich! Mein Verhalten war Michael gegenüber nicht in Ordnung. Schnell wandte ich mich ab und eilte ins Dorf zurück. Kadeijosch holte mich bald ein. Im Haus setzte er sich an den Tisch und bedachte mich mit besorgten Blicken.
»Seit wann weißt du von der filgurischen Sybielle?«, fragte er schließlich.
»Seit London.«
»Mit diesen Zeichnungen wird es dir nicht möglich sein, dich zu verwandeln. Ein Versuch würde dich jedoch nicht töten. Es wundert mich, dass du überhaupt zu etwas Übernatürlichem imstande bist.«
»Das kann ich dir erklären. Wenn ich Magisches tue, drücke ich die Linien von mir weg, lasse ich sie wieder los, das heißt durchbreche ich meine Konzentration, dann schnalzen sie wie ein Gummiband zurück und verletzen mich. In London habe ich dir davon erzählt, erinnerst du dich daran? Damals kannte ich den Grund für meine Reaktionen noch nicht. Mein größtes Problem ist, dass ich die meisten magischen Dinge unbewusst und instinktiv mache. Bis ich realisiere, was ich tue, ist es zu spät.«
»Wer hat dir das angetan?« Kadeijoschs Körpersprache war neutral, seine Stimme klang ausgeglichen, aber ich konnte seine Wut spüren.
»Derjenige wollte mir nichts antun. Er wollte mir ein normales menschliches Leben ermöglichen.«
Langsam brachen Kadeijoschs Emotionen durch seine Maske der Selbstbeherrschung. Energisch donnerte er mit der Hand auf den Tisch. »Aber du bist kein Mensch. Wer war es?« So kannte ich Kadeijosch nicht. Verstört machte ich einen Schritt zurück und antwortete: »Mein Vater.«
»Erinnerst du dich noch an die Durchführung des Rituals?« Diesmal klang er wieder wie er selbst.
»Nein.«
»Du musst noch sehr klein gewesen sein. Es erklärt, warum du uns nicht vertraust. Einer von uns hat dir das angetan. Dafür wird er sich verantworten müssen.«
»Er ist mein Vater. Er hat es gut gemeint.«
»Er hatte kein Recht. Mit diesen Zeichnungen bestrafte man in den alten Zeiten die schlimmsten und gewalttätigsten Verbrecher. Es gehört viel dazu, um in unseren Kreisen als gewalttätig zu gelten.«
»Du sprichst von meinem Vater. Ich will nicht, dass er sich verantworten muss!«
Kadeijosch kontrollierte seinen Körper, aber ich wusste, wie wütend er war. Wie eine Naturgewalt stürmte er, mit sich selbst sprechend, aus dem Haus: »Wie kann man das einem Kleinkind antun?«
Allein zurückgelassen setzte ich mich auf die Couch und wartete. Ich dachte an Michael und wie sehr er meine Euphorie beim Betreten des Dorfes genossen hätte. Nach einiger Zeit klopfte es an der Tür. Ich hatte ein wenig Angst, daher blieb ich, wo ich war. Es klopfte erneut und Tetlef trat unaufgefordert ein. »Wo ist mein Sohn?«
Ich hatte keine Ahnung, von wem er sprach. »Wer?«
»Kadeijosch, mein Sohn, wo ist er?«
»Aber du gehörst doch zum amerikanischen Klan.«
»Mein Sohn und ich im selben Klan, das würde zu unnötigen Streitigkeiten führen. Glaube mir, es ist besser, wenn wir uns nur sporadisch sehen. Also, wo ist er?«
»Da fragst du die Falsche. Er hat das Haus vor längerer Zeit verlassen.«
»Das ergibt keinen Sinn, weshalb sollte er das tun?«
Obwohl ich den wahren Grund für sein Verschwinden kannte, zuckte ich ahnungslos mit den Schultern und hoffte, dass der rote Drache, durch dessen Anwesenheit ich eine Gänsehaut bekam, wieder gehen würde.
»Warum hat er zuvor derart wütend gebrüllt? Er war in seiner Drachenform auf der Wiese, habe ich recht?« Auf diese Frage reagierte ich nicht. Um nichts in der Welt würde ich Tetlef von meiner filgurischen Sybielle erzählen, doch leider war er niemand, der schnell aufgab. »Weißt du, ich verstehe das Verhalten von Ryoko, Tibi und Kadeijosch nicht. Gestern Morgen war Tibi über Kadeijoschs Plan, um dich zu werben, noch unglücklich gewesen, doch bereits am Abend hätten sich die drei nicht einiger sein können. Ich würde zu gerne erfahren, was sie verheimlichen.«
Mit meiner Stimme fand ich auch meine Courage wieder. »He, ich bin hier nur der Mensch. Vielleicht solltest du deinen Sohn fragen.«
Seine schwarz umrandeten Augen musterten mich abschätzig. Er machte eine beleidigte Bewegung auf mich zu. »Aus welchem Grund misstraust du mir?«
Möglicherweise lag es ja an den blauen Haaren, dem dunklen Lidstrich, dem aufgestellten Kragen oder daran, dass er mich wie den letzten Dreck behandelte. Wenn ich ehrlich war, sein Aussehen fand ich irgendwie cool, es musste also wohl an seinem Benehmen liegen. »Du bist nicht das erste übernatürliche Wesen, das ich treffe. Wieso sollte ich dir trauen?«
Hinter ihm war ein leises Knarren zu hören. Erhobenen Hauptes betrat Kadeijosch den Raum. »Tetlef, suchst du mich?«
»Ja, ich wollte wissen, wie es dir geht. Ich habe dich brüllen gehört. Wenn die Ausgeglichenheit in Person wütend wird, alarmiert es mich.«
Kadeijoschs Blick fiel auf mich. »Ich habe mich nur über einen unserer Art geärgert.«
»Wie interessant, ich dachte, die würden sich zurzeit alle über dich ärgern«, stellte Tetlef schnippisch fest.
»Nur eure Drachen, mit meinem Klan bin ich im Einklang.«
»Siehst du, das bestürzt mich. Seit wann gibt es zwischen unseren beiden Klans Geheimnisse?«
»Seit Ryoko, Tibi und ich jemandem unser Wort gaben.« Tetlef warf mir einen finsteren Blick zu, dann verließ er schweigend das Haus. Kadeijosch schubste mich aufmunternd an und reichte mir eine ihrer traditionellen türkisen Roben. Nachdem ich mich umgezogen und geschminkt hatte, ging ich zu ihm in die Küche. Auch er trug inzwischen diese formelle Kleidung. Gemeinsam begaben wir uns auf den Weg zum größten Haus des Ortes. Dort hatten sich mittlerweile viele Drachen eingefunden. In der Hütte drehte ich mich im Kreis. Scheinbar bestand sie nur aus einem Raum, in dessen Mitte eine riesige Tafel umgeben von Holzbänken stand. Bereits beim Betreten des Gebäudes sorgte ich dafür, dass ich alle in ihrer menschlichen Form sah. Mehrere Männer und Frauen waren um die offene Feuerstelle am hinteren Ende des Raumes versammelt. Ich erkannte Rebekka und Adlen. Die Drachenschuppen auf ihren Stirnen reflektierten das Licht des lodernden Feuers. Während unseres Londonaufenthaltes hatte ich herausgefunden, dass sie Achteldrachinnen waren. Ryoko und Tibi betraten das Haus kurz nach uns. Eine Frau, die ich nicht kannte, kam zu mir und umarmte mich freundlich. »Also du bist Kadeijoschs Zukünftige?«
»Nein, wir sind nur Freunde. Ich bin mit jemand anderem zusammen.«
Sie streichelte mir vorsichtig über die Wange. »Glaubst du nicht, dass der Drache die bessere Wahl wäre?«
Michael war egoistisch, berechnend und durchtrieben, aber er hatte auch positive Eigenschaften. Er war liebevoll und seine Familie ging ihm über alles. Außerdem liebte ich ihn und dieses Wissen ließ keine Fragen offen. Er war meine Wahl und er würde es auch bleiben. »Nein, ich liebe Michael. Etwas verbindet mich mit ihm. Von ihm werde ich regelrecht angezogen«, antwortete ich wahrheitsgetreu.
Erschrocken legte sie die Hand über ihren Mund. »Oje, er hat dich verzaubert.«
»Nein, das kann er nicht.«
»Du weißt aber, dass er ein Peri ist?«
»Ja, das ist mir bekannt«, grinste ich.
»Und für sie nimmst du den ganzen Ärger in Kauf?«, hörte ich Henrys tiefe verachtende Stimme hinter mir. Wieder einmal spielte er mit seinem Oberlippenbart und sein silberner Ring, ein spitz zulaufendes Oval mit einem geschliffenen Onyx, glitzerte auf seinem Finger. Kadeijoschs Interesse hatte mir die Missgunst der meisten Drachen eingebracht.
Schützend stellte sich Kadeijosch vor mich. »Kein Peri schreibt mir vor, was ich zu tun oder zu lassen habe.«
»Es geht nicht um Stolz, sondern um Vernunft«, entgegnete Henry.
Auch wenn ich nicht im Traum daran dachte, Kadeijosch zum Mann zu nehmen, gefiel es mir nicht, wenn die anderen ihn ständig attackierten. Unsicher sah ich in die Runde. »Ich verstehe diesen Wirbel nicht. Ich verstehe weder Michael noch euch. Dann lebe ich eben einen Monat bei euch. Danach kehre ich zu Michael zurück und alle sind zufrieden. Aber vor Juli habe ich keine Zeit. Ich muss auf die Uni.«
Im Raum brach ein lautes Gelächter aus. Henry kam zu mir. Verspielt kniff er mich mit Daumen und Zeigefinger in die Wange. »Süß ist sie ja.« Danach ging er kopfschüttelnd zu Tetlef. »Sie gefällt mir. Wenn du nicht willst, mache ich es gerne.«
Tetlef schüttelte beiläufig den Kopf. Was hatten die beiden vor? Neugierig versuchte ich ihrem Gespräch zu folgen, doch die Frau von vorhin legte ihre Hand auf meinen Unterarm. »Süße, Kadeijosch ist ein reiner Drache.«
»Ich weiß, so wie Tibi, Ryoko, der hinkende graue Drache von gestern, Tetlef und Henry. Nur begreife ich nicht, was das Eine mit dem Anderen zu tun hat.«
»Du wirst ihm nicht widerstehen können.«
»Blödsinn! Ich weiß, was ich will.«
»Du verstehst nicht. Nach einem Monat bist du so verrückt nach ihm, dass du nie wieder von seiner Seite weichen möchtest.«
Glaubte sie! Sollten sie doch alle denken, was sie wollten! Kadeijosch stieß mich aufmunternd an. »Melanie, lass dir den Abend nicht verderben.« Seinen liebevollen Blick erwiderte ich mit finsterer Miene, entfernte mich von ihm und setzte mich alleine auf eine der Holzbänke beim Tisch. In der Gegenwart der Drachen fiel es mir schwer Geheimnisse zu wahren, daher versuchte ich mich ihrer Gesellschaft zu entziehen. Henry platzierte sich neben mich. »Du bist also Michaels große Liebe. Wer hat dir erzählt, dass Ziwik grau ist? Weißt du, er ist nicht nur grau, er hat …«
»... links und rechts an der Seite eine orangefarbene Zeichnung. Ich weiß, ich habe ihn gestern vom Auto aus gesehen«, unterbrach ich ihn. Warum hatte ich das gesagt? Jeder Sinn für Vorsicht und Vernunft schien in ihrer Anwesenheit blockiert zu sein.
Henry betrachtete mich skeptisch. »Er hat sich seit Langem nicht mehr verwandelt. Seine Schmerzen steigern sich, wenn er in seiner Drachenform ist.«
»Ihr sprecht über mich?« Neben uns war der hinkende Ziwik erschienen. Ich wollte mich konzentrieren, um ihn nicht mehr als Drache zu sehen, doch mir fiel etwas Glitzerndes an seinem Hinterlauf auf. Um es besser betrachten zu können, ging ich näher an ihn heran. In seiner Flanke steckte ein Dolch.
»Kadeijosch, wenn du mir ihretwegen die Hilfe verweigerst, könntest du wenigstens dafür sorgen, dass sie mich mit Respekt behandelt.« Ziwiks Stimme klang genauso düster, wie er aussah.
Kadeijosch räusperte sich. »Melanie, konzentriere dich, er ist im Augenblick kein Drache.«
Tetlef sah fragend von Kadeijosch zu mir. Ryoko trat zwischen uns. »Melanie, du kannst diese Feindseligkeiten beenden. Erlaube uns bitte ihnen die Wahrheit zu sagen.« Ryoko hatte sein Versprechen zwar nicht gebrochen, aber nun wussten sie mit Gewissheit, dass es ein Geheimnis gab, welches Kadeijoschs Entscheidung legitimierte. Er hatte mich verraten. Wütend ging ich an ihm vorbei, wobei ich ihn absichtlich anrempelte. Es war eine törichte Handlung, die nur mir wehtat. »Warum zieht ihr ihm nicht einfach den Dolch aus dem Hinterlauf und lasst mich in Frieden?«
Ryoko griff nach meinem Arm. »Wovon sprichst du?«
Entnervt zeigte ich auf den Dolch. »Würde in meinem Bein ein Dolch stecken, hätte ich auch schreckliche Schmerzen.«
Wo ich einen Drachen wahrnahm, sahen sie einen Mann. Ja, die anderen glaubten, ich sei verrückt. Ich wollte in Kadeijoschs Croft House gehen, doch eine Person stellte sich mir in den Weg. »Hier geblieben!« Es war einer der kleineren Drachen vom Vorabend. Ständig entschieden übernatürliche Wesen über mein Leben. Ich hatte genug davon, herumkommandiert zu werden. »Tritt zur Seite und lass mich vorbei!«, verlangte ich mit dominanter Stimme.
Widerwillig setzte er einen Schritt zurück. Unter seinen entgeisterten Blicken verließ ich das Treffen. Auf dem Weg zu Kadeijoschs Hütte kickte ich zornig Steine vor mir her.